Artikel

Behavioral Pricing und Selling bei Versicherungen: Psychologische Prozesse und Verhaltensphänomene einbeziehen

Marktsättigung, reife Märkte und ein relativ geringes Produktinvolvement bei den Kunden erschweren organisches Wachstum für Versicherungen. Mit Behavioral Pricing und Selling, also der Einbeziehung von psychologischen Prozessen und Verhaltensphänomenen der Kunden in die Preissetzung und den Vertrieb, kann die Preisakzeptanz der Kunden erhöht und somit Prämienwachstum generiert werden.

Zusätzliches Prämienwachstum ist ein zentrales Ziel für Versicherungsunternehmen. Dies gilt besonders für einzelne Sachversicherungssparten, in denen die Anbieter mit einer Combined Ratio von über 100 Prozent seit Jahren rote Zahlen schreiben. In der Umsetzung stellt dies Versicherungen allerdings vor diverse Herausforderungen. Lösungsansätze aus dem Bereich des Behavioral Pricings und Sellings können hier erfolgsversprechend sein. 

Aktuelle interne und externe Herausforderungen für Versicherungen

Der Versicherungsmarkt ist in vielen Sparten geprägt von einer hohen Marktsättigung sowie reifen Märkten, die organisches Wachstum erschweren. Gleichzeitig gewinnen Vergleichsportale zunehmend an Bedeutung, wodurch die Preistransparenz erhöht wird und die Versicherungskunden preissensibler werden. 

Darüber hinaus haben Versicherungen zumeist auch mit internen Herausforderungen zu kämpfen. In den letzten Jahren wurden, auch wegen regulatorischer Vorgaben, immer mehr Akteure in den Produktentwicklungsprozess einbezogen. Dies führte zwar zu einer regelkonformen Produktentwicklung, aber auch zu sinkender Transparenz in der Preisfindung aus Sicht der Versicherer. Gleichzeitig werden aktuell Legacy-Systeme sukzessive durch moderne Bestandssysteme abgelöst. Diese verfügen zwar über neue Technologie, deren Pricing-Potenzial ist allerdings noch nicht ausgeschöpft. 

Erfolgsfaktoren für moderne und erfolgreiche Versicherungen

Aus Sicht von Horváth werden in der Zukunft erfolgreiche Versicherungen Möglichkeiten des stärker individuellen und verhaltensökonomisch-basierten Pricing und Selling nutzen, um auch in gesättigten Märkten bzw. bei geringem Produktinvolvement ein Prämienwachstum zu verzeichnen. Dies betrifft grundsätzlich alle Vertriebskanäle und speziell Vergleichsportale, bei denen eine optimale Positionierung auch über den Preis als Differenzierungsmerkmal zum Wettbewerb erfolgt. Die Optimierung der Versicherungsprämie allein wird allerdings noch nicht ausreichen. 

Erfolgreiche Versicherungen werden auch bereits in der Produktgestaltung verhaltensökonomische Erkenntnisse einfließen lassen, um den Mehrwert des Versicherungsprodukts für die Kunden in den Vordergrund zu stellen. Zudem können diese Erkenntnisse auch in der Darstellung von Produktoptionen genutzt werden, um den zusätzlichen Mehrwert eines teureren Produkts zu verdeutlichen.  

Erfolgreiche Versicherungen werden darüberhinaus von einer verschlankten Pricing Governance und der Nutzung moderner Technologien profitieren. Dies schließt zum einen klare Regeln für die zukünftige Preisfindung und zum anderen den Einsatz von Data Analytics und Business Intelligence zur Unterstützung des Pricings ein. 

Preisgestaltung bei Versicherungen heute

Die derzeitige Tarifierung bei Versicherungen erfolgt traditionell kostenbasiert. Mittels Risikomodellen wird im Aktuariat die einzelvertragliche Schadenerwartung bestmöglich geschätzt und ergänzt um Kostenzuschläge und Gewinnmarge zum technischen Preis zusammengefügt. Im Anschluss erfolgt dann meist im Betrieb oder Marktmanagement eine Tarifanpassung, um zum Beispiel Erwartungshaltungen des Kunden oder des Vertriebs zu adressieren. Mit der Festlegung von etwaigen Rabatten wird aus diesem Tarifpreis ein Verkaufspreis, den Kunden am Ende sehen. 

Aber wie wirkt die Preisdarstellung auf Kunden und ihre Preisakzeptanz? Wie könnte eine Preisdifferenzierung erfolgen oder das angebotene Produkt kundenindividuell gestaltet werden? Die Verhaltensökonomie bietet hierfür Ansatzpunkte. 

Innovative Preisgestaltung und Produktentwicklung für Versicherungen

Produktentwicklung, Tarifierung und Vertrieb von morgen werden Elemente des Behavioral Product Designs, des Behavioral Pricings und des Behavioral Sellings aufnehmen.

 

Behavioral Product Design

Behavioral Product Design baut auf strategischen Vorgaben und den Entscheidungsprozessen der Kunden auf. Ausgangspunkt bildet die Analyse von Treibern und Barrieren in den Entscheidungsprozessen. Ein zentrales Element hierbei ist die Untersuchung des entscheidungspsychologischen Profils der Kunden in drei Dimensionen: 

1. Motivation

  • Was treibt das Verhalten der Kunden bei der Auswahl eines Versicherers bzw. eines konkreten Produkts? Welche Anforderungen stellen sie an das Leistungsversprechen? Worauf legen sie wert? Was ist ihnen wichtig? 
  • Typische Motive sind beispielsweise: Verlustaversion (keine zu geringen Deckungen), Jagd nach dem besten Deal (weniger als beim Wettbewerber bezahlen), Streben nach Fairness (angemessener Preis für beide Seiten). 

Idealerweise geht die Motivation der Kunden in die Segmentierung der Kundenbasis ein: Sobald die Motivation der größten Kundensegmente bekannt ist, kann dieses Wissen für die Produktgestaltung, die Kommunikation und das Pricing genutzt werden. Denn: Verlustaversive stellen andere Anforderungen an Deckungen als Schnäppchenjäger, die auf der Jagd nach dem besten Deal sind. 

2. Kognition 

  • Interesse der Kunden, sich mit einem konkreten Versicherungsprodukt zu beschäftigen: Je größer das Interesse, desto mehr Aufwand ist der Kunde bereit, in seine Entscheidung zu investieren und desto mehr Kriterien spielen eine Rolle. Für den Versicherer bedeutet dies, dass er sich über eine größere Anzahl an Produktmerkmalen vom Wettbewerb abheben kann.   

  • Wissen des Kunden über ein konkretes Versicherungsprodukt: Wie gut kennen sich Kunden in Bezug auf verschiedene Tarife, deren Leistungen und Konditionen aus? Wie verständlich sind für sie verschiedene Deckungen/Bausteine? Wie gut können sie einschätzen, was sie heute für ein annähernd vergleichbares Produkt bezahlen (sofern es sich um einen Produkt- oder Anbieterwechsel handelt)? 

  • Bewertung einzelner Deckungen durch Kunden: Wie relevant sind sie, welche wählen sie aus inhaltlichen Gründen? Wie ändert sich das Wahlverhalten, wenn sie den zugehörigen Preis bzw. die Gesamtprämie sehen? Wie bewerten sie das Preisimage des aktuellen Versicherers? 

Sobald Interesse und entscheidungsrelevante Kriterien der größten Kundensegmente bekannt sind, können diese Aspekte in die Produktgestaltung und später die Produktkommunikation einfließen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass der Schwerpunkt auf die Kriterien gelegt wird, die für die Kunden wirklich von Relevanz sind. Selbstverständlich ist von Seiten der Produktentwicklung eine gewisse „Übersetzungsarbeit“ zu leisten, denn Kunden definieren typischerweise nicht direkt umsetzbare Produktmerkmale.  

Eine Kenntnis des Wissens der Kunden ist zentral, wenn es um die Einschätzung ihrer Bewertungen – vor allem in Bezug auf akzeptierte Preise geht. Häufig ist die tatsächliche Preisakzeptanz höher als es die konkreten Antworten auf Pricing-Fragen vermuten lassen. Hier liegt die große Chance auf Anbieterseite, Prämienwachstum zu generieren, ohne andere Zielgrößen wie den NPS, Conversion Rate, Churn Rate oder die Kundenzufriedenheit negativ zu beeinflussen.  

3. Kundenverhalten 

  • Wo informieren sich Kunden? Wie viele Angebote holen sie zum Vergleich ein?  

  • Wie häufig wechseln sie ihren Tarif/Anbieter? 

Wissen über vergangenes Verhalten hilft bei der Einschätzung zukünftigen Verhaltens. Schnäppchenjäger, die jährlich ihren Tarif wechseln, werden dieses Verhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft beibehalten. Verlustaversive, die aus Sorge um unbekannte Nachteile eines anderen Tarifs Wechsel vorsichtshalber unterlassen, sind vermutlich auch in Zukunft treue Kunden.  

Behavioral Pricing

Das Behavioral Pricing geht einen Schritt weiter und hat die Preissetzung im Fokus. Dies betrifft vor allem die Definition der Preishöhe und der Preisstruktur. Hierbei wird jedoch nie die aktuariell definierte Preisuntergrenze gesenkt, sondern vielmehr geht es um die Abschöpfung der Preisakzeptanz, also das Ausloten des Preisspielraums nach oben. Folglich ist es zentral, die Gründe der Preisakzeptanz aus Kundensicht zu kennen. Eine zentrale Rolle kommt hierbei den Entscheidungsmotiven zu: Gerade bei Versicherungen ist es für viele Kunden wichtig, einen fairen, transparenten und angemessenen Preis zu bezahlen. Häufig geht es nicht um die absolut niedrigste Prämie, da diese mit dem Risiko verbunden sein könnte, im Schadenfall eine zu geringe Deckung zu haben.  

Wie stellt man nun fest, welche Preise als fair, transparent und angemessen bewertet werden? Hierfür stehen verschiedene Marktforschungsmethoden zur Verfügung. Welche Methode die optimale ist, hängt unter anderem vom Preiswissen der Kunden, der Produktstruktur und der Anzahl zu testender Produktelemente ab. In der Regel ist es erforderlich, mehrere Methoden zu kombinieren, um umfassende Erkenntnisse zu erlangen. Im Fall komplexerer Produktbündel könnte dies zum Beispiel ein Conjoint-Ansatz kombiniert mit einem Price-Sensitivity Measurement zur Erhebung von Preisschwellen sein. Unabhängig davon welcher Methodenmix gewählt wird, hängt die Validität der Ergebnisse maßgeblich davon ab, dass die Entscheidungssituation in der Marktforschung möglichst realitätsnah gestaltet wird. Nur auf diese Weise legen die Befragten in der Marktforschung dieselben Entscheidungskriterien wie in der Realität zugrunde.  

Preisakzeptanz lässt sich jedoch nicht nur messen, sondern auch gestalten. Hierfür steht eine Vielzahl von Ansätzen zur Verfügung, die sich das Wissen über das Entscheidungsverhalten und die zugrundeliegenden Heuristiken zunutze machen. Bei Heuristiken handelt es sich zumeist um evolutionär bedingte „Daumenregeln“, die Kunden häufig unbewusst anwenden, um Entscheidungen treffen zu können.  

Kunden können zum Beispiel bei einem Produktportfolio durch den hohen Preis einer XL-Variante geankert werden (Ankereffekt), so dass die günstigere Large-Variante preislich angemessen wirkt. Sinnvoll gestaltete Produktbündel, die als Default angeboten werden, führen ebenso zu einer höheren Durchschnittsprämie als das Angebot eines Baukastens verschiedener Module, aus denen sich Kunden dann selbständig ihr Produkt zusammenstellen sollen. Die Preisakzeptanz kann auch durch den Verweis auf andere Kunden, die ein ähnliches Profil wie der angesprochene Kunde und sich für das Produkt entschieden haben, positiv beeinflusst werden („wisdom of the many“). Welche der unzähligen Heuristiken am besten wirken, hängt von den vorherrschenden Kundensegmenten ab und muss fallspezifisch bestimmt werden.  

Behavioral Selling

Behavioral Selling setzt auf der Customer Journey auf und hat zum Ziel, das Kundenverhalten entlang des Informations- und Entscheidungsprozesses bewusst zu steuern. Grundsätzlich gilt: Wenn Versicherer verstehen, wie Kunden Entscheidungen treffen, sind sie in der Lage, dieses Verhalten vorherzusagen und aktiv zu gestalten.  

Hierzu ein Beispiel aus der Lebensversicherung: Aufgrund der steigenden Lebenserwartung und der zu erwartenden Versorgungslücke bei den staatlichen Renten kommt der privaten Altersvorsorge eine essenzielle Bedeutung zu, um zukünftige Altersarmut einzudämmen. Kunden scheuen jedoch häufig den zeitlichen Aufwand, sich mit dieser komplexen Thematik zu beschäftigen. Der heutige Konsum scheint deutlich attraktiver als eine in ferner Zukunft ausbezahlte private Altersvorsorge. Aus verhaltensökonomischer Sicht wirken hier zum einen der „present bias“ (Fokus auf das hier und heute) sowie der Effekt des „hyperbolic discounting“ (überproportionale Abdiskontierung zukünftiger Vorteile) als Barrieren im Entscheidungsprozess. Ein besseres Verständnis der wirklichen Barrieren hilft bei ihrer Überwindung. Ein Ansatz besteht zum Beispiel darin, im Beratungsgespräch gerade bei sehr jungen Kunden die Vorteile eines frühzeitigen Abschlusses stärker zu konkretisieren. Nahezu jeder Kunde unterschätzt den Zinseszinseffekt, der bereits bei Einzahlung kleiner Beiträge im Zeitablauf zu einem starken Vermögenszuwachs führt. Zentral bei der Überwindung von Entscheidungsbarrieren ist, dass die Ansätze möglichst konkret und auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten sind. Bei Eltern wirkt in diesem konkreten Beispiel die bewusste Gestaltung des Entscheidungskontextes - verhaltensökonomisch „Framing“ - besonders gut. Sie möchten ihre Kinder in der Regel davor bewahren, im Alter für sie aufkommen zu müssen. Behavioral Selling adressiert dieses Bedürfnis konkret indem auf den Trade-off hingewiesen wird: lieber jetzt eine private Altersvorsorge abschließen als in Zukunft den Kindern auf der Tasche liegen.      

Ein anderes Beispiel aus der Sachversicherungssparte: Gerade haben die Versicherer die Beitragsanpassungsschreiben zur Kfz-Versicherung versendet. Stark gestiegene Schadenkosten werden für viele Autofahrer eine Erhöhung der Prämie von 10 Prozent und mehr bedeuten. Welche Kommunikation motiviert nun am ehesten Kunden dazu, nicht zu wechseln? Dies hängt maßgeblich von der Positionierung des Versicherers und seinen Kunden ab: vor allem Premiumanbieter werden überproportional häufig von preisbereiten sowie verlustaversiven Kunden gewählt. Für diese ist es vor allem wichtig, dass sie weiterhin ihren gewohnt hochwertigen Schutz und Service bekommen. Neben dem Entscheidungsmotiv Verlustaversion ist es gerade für preisbereite Kunden auch wichtig, die Kontrolle zu behalten. Anstatt sie lediglich mit einer Prämienerhöhung zu konfrontieren, schätzen sie das Angebot von Optionen, die ihnen den Eindruck geben, weiterhin im „driver seat“ zu sitzen.  

Zusammenfassend geht es beim Behavioral Selling primär um die Preisdurchsetzung am Markt sowie um die Förderung von Abschlussentscheidungen. Voraussetzung hierfür ist neben einem spezifischen Verhandlungstraining ein entsprechend gestaltetes Incentivesystem, das Vermittler motiviert, konkrete Preisdurchsetzungsziele zu erreichen, anstatt Kunden über unverhältnismäßig hohe Rabatte zu akquirieren. 

Dass sich eine verhaltensökonomisch basierte Optimierung der Produktentwicklung sowie des  Pricings und Sellings rechnet, zeigt folgendes Beispiel aus der Kfz-Sparte: Basierend auf einer umfassenden Untersuchung der kundenseitigen Entscheidungsprozesse konnte ein führender Versicherungskonzern in Deutschland die Preise für ausgewählte Deckungen um 10 bis 40 Prozent erhöhen. Umgerechnet auf die Gesamtprämie kommt dies einer Steigerung von ca. 7.5 Prozent gleich. Da es sich hierbei um risikoneutrale Prämienanpassungen handelt, schlagen diese direkt auf das Ergebnis des Versicherers durch.

Fazit

Behavioral Product Design, Behavioral Pricing und Selling bieten Versicherungen zahlreiche Möglichkeiten, sich vom Wettbewerb abzusetzen. Grundlage hierfür ist ein umfassendes Verständnis der Entscheidungsprozesse auf Kundenseite und der hierbei geltenden Heuristiken. Ergänzt um eine moderne Pricing Governance und die Nutzung neuer Technologien, die den steigenden Anforderungen gewachsen sind, können Versicherungen nachhaltiges Prämienwachstum generieren. 

Lüer, P. / Mägebier , A.