In vielen Industrien kommt dem Einkauf längst eine Schlüsselrolle zu. Im Zuge der aktuellen Deglobalisierungs-Tendenzen werden die Aufgaben immer komplexer und dynamischer – und die Resilienz der Supply Chain wird zum strategischen Faktor. Michael Reinisch, Partner und Procurement-Experte bei Horváth, erläutert im Interview worauf es für Unternehmen jetzt ankommt.
Was hat sich im Einkauf im Zuge des Rohstoffmangels, der Lieferengpässe, der geopolitischen Krisen verändert – worauf liegt gerade der Fokus?
REINISCH Der Fokus liegt aktuell vor allem auf der Verfügbarkeit von Material. Der Druck auf den Einkauf, die Lieferketten abzusichern, ist über die letzten Jahre enorm gestiegen. Neustrukturierungen werden, wo nötig, in Betracht gezogen und auch vorgenommen – doch darf man dabei nicht vergessen: Der Wechsel von Lieferanten für strategisch wichtige Bedarfe ist in der Regel sehr aufwendig und mit teilweise hohem Aufwand verbunden. Außerdem muss die Kostenstruktur weiterhin wettbewerbsfähig bleiben. Zwar wird teilweise versucht innerhalb der Weltregionen auf gezielte Lieferantenpartnerschaften zu setzen, es findet aber keine systematische Deglobalisierung statt. Neben der Verfügbarkeit sind es Themen wie die Resilienz der Lieferketten, die End-to-End-Transparenz über Preise von der Beschaffung bis in den Vertrieb und die Nachhaltigkeit, die Einkaufsorganisationen aktuell beschäftigen.
In welchen Branchen hat Deglobalisierung den größten Einfluss auf den Einkauf – und inwiefern?
REINISCH Vor allem in den produzierenden Industrien findet teilweise ein Umdenken statt. Während die Globalisierung in den letzten Jahrzehnten ein sehr guter Hebel zur Kostensenkung war, führen inzwischen hohe Transportkosten und lange Lieferzeiten zu Mehrkosten, die eine regionalere Beschaffung deutlich attraktiver werden lassen. Es ist verstärkt Aufgabe des Einkaufs geworden, regionale Lieferanten zu strategischen Partnern zu entwickeln. Hierfür ist die entsprechende technische Expertise und die crossfunktionale Zusammenarbeit mit der Entwicklung, der Produktion und dem Qualitätsmanagement elementar.
Wird in der aktuellen Situation wirklich noch auf Nachhaltigkeit geachtet?
REINISCH Gerade vor dem Hintergrund globaler Lieferketten stehen Einkäuferinnen und Einkäufer vor der Herausforderung, Lieferanten proaktiv mit Fokus auf Innovationen und Entwicklungen für mehr Nachhaltigkeit zu managen. Dies ist mitunter darauf zurückzuführen, dass durch globale Lieferketten erzielte ökonomische Vorteile, etwa niedrige Fertigungskosten in Schwellen- und Entwicklungsländern, häufig mit geringen nachhaltigkeitsrelevanten Standards korrelieren. Deglobalisierung kann in diesem Zusammenhang – beispielsweise im Rahmen einer Regionalstrategie, bei der die Bedarfe möglichst in der Region gedeckt werden – ein strategischer Hebel zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele sein. Dies resultiert vor allem aus sozialen Aspekten wie der Einhaltung internationaler Mindeststandards sowie aus ökologischen Gesichtspunkten, darunter die Reduktion des CO2-Ausstoßes.
Wie können Unternehmen ihre Resilienz im Einkauf stärken, um widerstandsfähiger für unerwartete Krisen und Risiken im Allgemeinen zu werden?
REINISCH Diese Aufgabenstellung ist derzeit die Königsdisziplin im Einkauf, daher gibt es hier keine einfache Antwort. Es fängt mit strategischen Make-or-Buy-Entscheidungen an, bei denen bereits frühzeitig festgelegt wird, wie stark sich ein Unternehmen von externen Lieferanten abhängig macht. Bei Unternehmen mit der nötigen Größe und den erforderlichen Mitteln sehen wir aktuell verstärkt Bemühungen, Lieferketten durch Beteiligungen oder Joint-Ventures zu stabilisieren – beispielweise beim Thema Batterien für die Automotive-Industrie. Ein weiterer Aspekt ist das Schaffen von Transparenz. Der Einkauf muss interne Daten – auch außerhalb der klassischen Einkaufssysteme – sowie externe am Markt verfügbare Daten noch viel stärker kombinieren und nutzen, um Risiken und vor allem deren Auswirkungen frühzeitiger zu erkennen und Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Es müssen also Stücklisten, Produktionsplanung, Vertriebsplanung, interne und externe Lieferantendaten, zum Beispiel Supply-Chain-Risiko- und Nachhaltigkeitsinformationen, zusammengebracht werden. Die Lieferketten müssen deutlich durchsichtiger werden, um mehr agieren statt reagieren zu können.
Welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung?
REINISCH Durch die digitale Transformation sind viele Daten und Informationen nahezu in Echtzeit verfügbar. Das schafft die Grundlage, um von einem klassischen Risikomanagement immer stärker in ein proaktives Supply-Chain-Risikomanagement überzugehen. Diese Aufgabe ist heute noch immer sehr komplex. Aber: Der Aufwand, Informationen zu sammeln, zu konsolidieren und zu bewerten, wird immer geringer. Digitalisierung schafft damit mehr Freiraum, um Maßnahmen abzuleiten und umzusetzen – und ihre Effektivität zu bewerten. An den Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit kommt der Einkauf sowieso nicht mehr vorbei! Und das wirkt sich auch positiv auf die Resilienz der Lieferketten aus.