Agile Elemente in F&E-Prozessen: Wie Sie Ihr Unternehmen für gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen wappnen
Agilität und Automatisierung in Wertschöpfungsschritten zu etablieren, sind zwei adäquate Wege, um sich gegen zukünftige Risiken resilient aufzustellen. Die Einbindung von Agilität in die Forschung und Entwicklung (F&E) ist für alle Branchen wichtig, auch für die Automatisierungs- und Elektronikindustrie selbst. Nach jüngsten Schocks ist die Industrie weiterhin in Alarmbereitschaft, der Einsatz agiler Elemente gibt Grund zur Zuversicht.
Dynamik im F&E-Umfeld, ausgelöst durch wirtschaftliche, politische, soziale oder ökologische Herausforderungen, kann zu unnötigem Entwicklungsaufwand sowie zu Verzögerungen bei der Time-to-Market und damit zu verpassten Geschäftsmöglichkeiten führen.
In letzter Zeit haben Schocks wie größere Unterbrechungen der Supply Chain aufgrund geopolitischer Konflikte die Automatisierungs- und Elektronikindustrie in Alarmbereitschaft versetzt. Darüber hinaus führen anhaltende externe Einflüsse wie die Digitalisierung, aber auch Trends wie „Mass Customization“ und andere Erscheinungsformen von VUCA („Volatility“, „Uncertainty“, „Complexity“, „Ambiguity“) zu sich schnell verändernden Rahmenbedingungen und stellen daher eine Herausforderung dar. Daneben wirken sich auch unternehmensinterne Faktoren wie die Nachfrage der Mitarbeitenden nach New-Work-Konzepten auf die Branche aus.
Doch damit nicht genug, neue Bedrohungen zeichnen sich bereits am Horizont ab. Auch wenn Probleme in der Supply Chain oft mit etwas Verzögerung gelöst werden konnten, werden unvorbereitete Unternehmen in diesen disruptiven Zeiten wahrscheinlich dauerhaft anfälliger sein. Darüber hinaus stellen bspw. neue gesetzliche Vorgaben, wie die Maßnahmen der EU zur Cyber-Resilienz, für einige Unternehmen eine große Herausforderung dar. Wie können Unternehmen ihre Design-, Entwicklungs- und Produktionsprozesse anpassen, um den Herausforderungen zu begegnen? Die vergangenen Schocks haben gezeigt, ebenso wie aufkommende Bedrohungen darauf hindeuten, dass Agilität in F&E-Prozessen unumgänglich ist.
Mechatroniksystementwicklung – ein Wandel aufgrund sich verändernder Nachfrage
Die erwähnten Herausforderungen und Marktveränderungen erfordern nicht nur Veränderungen in der Produktentwicklung, sondern verändern auch das nachgefragte Produkt selbst. Die Zusammensetzung mechatronischer Produkte mit mechanischen, elektronischen und Softwarekomponenten hat sich gewandelt. Während der Anteil der elektronischen Komponenten konstant geblieben ist, haben sich die Anteile von Software und mechanischen Komponenten gegenläufig entwickelt. Die Produktentwicklung in den 1980er Jahren konzentrierte sich hauptsächlich auf die mechanischen Komponenten, während sie sich heute auf den Softwareanteil der Produkte fokussiert. Dieser Wandel ist insbesondere der anhaltenden Digitalisierung zuzuschreiben.
Produktentstehungsprozesse – der Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit
F&E ist das Herzstück des Innovationsprozesses eines Unternehmens. Produktentstehungsprozesse (PEP) als Kernprozess von F&E sind für Unternehmen entscheidend, um nachhaltig wettbewerbsfähig zu sein, und müssen an die sich verändernde Zusammensetzung mechatronischer Produkte angepasst werden. Während Innovationen den Erfolg eines Unternehmens bestimmen, hängt der Erfolg von Innovationen von einer vorausschauenden und profitablen Produktentstehung ab. Je innovativer ein Produkt, desto wahrscheinlicher ist es, im Laufe der PEP vermehrt Änderungen/Eingriffe vorzunehmen. Dementsprechend können richtig gemanagte PEP bereits Wettbewerbsvorteile bringen.
Vor allem Unternehmen in der Automatisierungs- und Elektronikindustrie sind auf ihre Innovationsführerschaft angewiesen, da sie durch Innovationen Fortschritt und Differenzierung anstreben. So gaben im Jahr 2021 TRUMPF 10,6%, Festo 7,1% und Phoenix Contact 6,6% ihres Umsatzes für F&E-Investitionen aus, während bspw. Unternehmen im Industriesektor Chemie durchschnittlich 2,4% und im Sektor Bau 2,3% ihres Umsatzes für F&E ausgaben, laut der europäischen Kommission.
Innovations- und Produktlebenszyklen werden kürzer und erfordern angepasste PEP. Der Wettbewerb wird nicht nur durch die Produktqualität, sondern vor allem durch Geschwindigkeit und Time-to-Market bestimmt. PEP werden dabei immer komplexer. Kunden- und Nutzerbedürfnisse werden frühzeitig in PEP einbezogen, Prototypen werden frühzeitig zu Validierungszwecken entworfen und Iteration ist ein ständiger Begleiter, um Probleme und Lösungen zu korrelieren. PEP haben sich von einem linearen, prozeduralen Prozess zu einem iterativen Problemlösungsprozess entwickelt.
Erfolgsfaktoren für Produktentstehungsprozesse
Im Rahmen zahlreicher Projekterfahrungen und mehrerer durchgeführter Branchenstudien konnte Horváth die folgenden sechs Aspekte als Erfolgsfaktoren für PEP in der Automatisierungs- und Elektronikindustrie identifizieren.
Schnelle Time-to-Market: Design, Entwicklung, Produktion und Vertrieb von Produkten so schnell wie möglich und rechtzeitige Bereitstellung der Lösungen
Ausgefeiltes Timing der Entwicklungszyklen: Harmonisierung der Entwicklungszyklen von physischen und Software-Produktkomponenten
Effizientes Anforderungsmanagement: Umgang mit unbekannten Kunden- und Nutzerbedürfnissen zu Beginn der PEP sowie mit sich ändernden Produktanforderungen
Modulare Produktsysteme: Anpassungen an sich verändernde Marktbedingungen ermöglichen sowie Wiederverwendung statt Neuerfindung der Komponenten, bspw. CTO statt ETO
Effiziente Ressourcennutzung: Entwicklung des Produkts zu einem wettbewerbsfähigen Preisniveau trotz steigender Kosten, insbesondere für physische Materialien
Simultaneous Engineering und Implementierung von funktionsübergreifenden Teams: Etablierung von Teams mit qualifizierten Maschinenbau-, Elektronik- und Softwareingenieuren mit T-Shaped-Fähigkeiten (tiefes Fachwissen und breites Wissen aus verwandten Disziplinen)
Agile Elemente – ein wirksames Instrument im Kontext der physischen Produktentstehung
Agilität kann als die Fähigkeit gesehen werden, in einem volatilen Umfeld auch in fortgeschrittenen PEP situationsabhängig Veränderungen am Produkt vorzunehmen und schnell, flexibel wie auch iterativ zu handeln. Agile Elemente unterstützen die Reaktion auf unbekannte Faktoren. Zudem ermöglichen und fördern sie die digitale Transformation, indem sie die Anpassungsfähigkeit des Operating Models steigern. Häufig wird in Unternehmen nur der technischen Agilität, also dem Einsatz agiler Tools, Methoden oder Techniken, Aufmerksamkeit geschenkt. Es ist jedoch mindestens ebenso wichtig, die kulturelle Agilität der Menschen innerhalb der Prozesse zu berücksichtigen.
Da die Bedingungen bei der Entstehung von physischen Produkten nicht denen von Softwareprodukten entsprechen, wo die meisten agilen Ansätze ihren Ursprung haben, müssen agile Elemente sorgfältig ausgewählt werden und sollten immer auf den spezifischen Kontext angepasst sein. Transformationen wie Industrie 4.0, die zu einem höheren Softwareanteil in mechatronischen Produkten führen, können daher als Befähiger von Agilität angesehen werden.
Kombination aus agilen und prozessorientierten Elementen zur Bewältigung künftiger Herausforderungen
Agile Elemente werden neben prozessorientierten Elementen in PEP etabliert, um Entwicklungs- und Entscheidungszeiten zu verkürzen (schnellere Time-to-Market), die Arbeitseffizienz zu steigern, früh im Prozess zu validieren und anzupassen (bspw. MVP-Prinzip) sowie die Reaktionsfähigkeit der Entwicklungsteams zu erhöhen. Durch iterative und inkrementelle Ansätze wird der Reifegrad des Produkts während des Prozesses kontinuierlich erhöht und es wird laufend Feedback von Kunden und Nutzern eingeholt. Agile Ansätze zielen darauf ab, komplexe Herausforderungen zu lösen und schnell Kunden- und Nutzervorteile zu generieren. Entwicklungsteams sind klein und multidisziplinär sowie kommunizieren direkt und eng miteinander, bspw. in Form von regelmäßigen Stand-up-Meetings. Um das volle Potenzial auszuschöpfen, müssen die Schnittstellen zwischen agilen Teams und ihren Umgebungen klar definiert sein.
Ein Unternehmen, das die Vorteile von Agilität erkannt hat und sie erfolgreich mit bewährten Prozessen in F&E kombiniert, ist TRUMPF. Seit mehr als einem Jahrzehnt in der Softwareentwicklung, setzt TRUMPF seit geraumer Zeit auch in der Entwicklung mechatronischer Produkte agile Elemente ein. Dabei wurde sowohl technische Agilität durch bspw. die Etablierung von Scrum als auch kulturelle Agilität durch die Integration von Agilitätsmanagern, die die Mitarbeiter fachlich und persönlich entwickeln, implementiert.
Unternehmen der Automatisierungs- und Elektronikindustrie, die in ihrer F&E keine Flexibilität und insbesondere keinen hybriden PEP haben, werden an Wettbewerbsfähigkeit und Marktposition verlieren.
Strategische Hypothese
Der Erfolgsfaktor „schnelle Time-to-Market“
Agile Ansätze unterstützen die Dekomposition der Entwicklungsarbeit innerhalb von Entwicklungszyklen. Die Verwendung agiler Elemente zur Aufteilung der Entwicklungsarbeit in kleine, testbare mechanische und funktionale Komponenten verbessert die Time-to-Market und die Flexibilität. Dies geschieht, da iterative Verfahren mit vielen Feedbackschleifen und die Tendenz agiler Ansätze zur Kollaboration oder sogar Co-Location dazu beitragen, die Produktentwicklung ohne Qualitätseinbußen schneller voranzutreiben. Da Unternehmen neue Produkte und Innovationen schnell liefern müssen, um mit der Konkurrenz mithalten zu können, ist die Time-to-Market ein wichtiger KPI und muss sowohl in F&E als auch in der Produktion verankert werden. Agile Methoden wie das „Kanban Board“ helfen dabei, das große Ganze im Blick zu behalten.
Um die Geschwindigkeit der Produktentwicklung aufrechtzuerhalten, ist es notwendig, auch die kulturelle Agilität zu berücksichtigen. Durch die Durchsetzung von Prinzipien wie „Bereitstellung der besten Architekturen durch selbstorganisierte Teams“, „Einfachheit als Basis“, „Nutzung von Veränderungen zum Wettbewerbsvorteil des Kunden und Nutzers“ und „Ausprobieren und Testen“ sind die Entwickler richtig eingestellt.
Der Erfolgsfaktor „ausgefeiltes Timing der Entwicklungszyklen“
Da Software und mechanische Produktkomponenten weiterhin unterschiedliche Entwicklungszeiten und damit Zyklen haben werden, bspw. aufgrund unterschiedlicher Komplexität bei der Erstellung von Prototypen, muss versucht werden, diese Zyklen aufeinander abzustimmen. Entwicklungszyklen müssen so koordiniert werden, dass Prototypen während des Prozesses iterativ validiert werden können, die Time-to-Market optimiert wird und das zusammengesetzte Produkt schließlich pünktlich bereitgestellt wird. Die folgende Abbildung zeigt, wie die Zyklen koordiniert werden können.
Die gestaffelte Sprintlänge stellt einen Kompromiss zwischen einheitlicher und zyklusspezifischer Sprintlänge dar. Dies ermöglicht ein effizientes Arbeiten innerhalb der Zyklen sowie einen effizienten Informationsaustausch. Die Implementierung kurzer Entwicklungsabschnitte für mechanische Produkte, bspw. durch die Einführung des Scrum-Rahmenwerks, hilft, bei Problemen schnell zu reagieren und bietet die Möglichkeit für kontinuierliches Feedback.
Entwicklungsteams sollten nach agilen Prinzipien wie „Iterationen für Evolutionen“, „regelmäßige Bereitstellung funktionierender Produkte“ oder „Fokus auf den Kunden und Nutzer“ handeln. Durch die Berücksichtigung kultureller und technischer Agilität werden die Voraussetzungen geschaffen, um in kurzen Abständen mehrere Software- und mechanische Prototypen zu entwickeln und diese auf der Grundlage von Stakeholder-Feedback kontinuierlich zu verbessern und anzupassen.
Hybride Ansätze zur Steigerung der Erfolgsaussichten
Eine kontextbezogene Synergie von agilen und prozessorientierten Elementen wird dringend empfohlen. Flexibilität sollte vor allem zu Beginn der PEP vorhanden sein. Auf der Zielgeraden sollte mehr Gewicht auf Prozesselemente gelegt werden, die für Stabilität und Disziplin sorgen. Untere Prozessebenen, also die regulären Prozesse, können standardisiert werden, aber die oberen Ebenen müssen flexibel und kreativ anpassbar sein. Hybride PEP vereinen das Beste aus beiden Welten und sind ein entscheidender Wettbewerbsvorteil.