Hephaistos, Kennern der griechischen Mythologie als Gott der Schmiedearbeit und der einfachen Tätigkeiten bekannt, lebte der Sage nach auf dem Olymp. Er war der einzige Schmied auf dem Olymp und damit vermutlich genauso begehrt und beschäftigt wie Arbeitnehmer heutzutage. Da göttliche Fähigkeiten inzwischen allerdings selten geworden sind, wird die Arbeit heute auf viele Schultern verteilt, von denen es allerdings in Europa immer weniger gibt.
Dies hat zur Folge, dass viele Unternehmen heute schon Schwierigkeiten haben, ihren Auftragsbestand abzuarbeiten oder den Betrieb aufrechtzuerhalten. Dass die Lage bereits heute dramatisch ist, zeigt sich daran, dass in diesem Jahr mehr als die Hälfte der deutschlandweit angebotenen Ausbildungsstellen für August im Juli noch unbesetzt blieben. Dies verdeutlicht auch, dass wir gerade erst am Anfang des Problems stehen, obwohl dies die deutsche Wirtschaft, laut der Boston Consulting Group, bereits jetzt 86 Milliarden Euro jährlich kostet.
Der demografische Wandel wird sich in den nächsten Jahren zu einer der größten Herausforderungen in vielen westlichen Industrienationen, besonders in Deutschland, entwickeln. Spätestens, sobald die sogenannten Babyboomer (Jahrgänge 1946 bis 1964) nun endgültig in Rente gehen, wird die Situation zu einer immer größeren, fast olympischen, Herausforderung werden. So schätzt das Statistische Bundesamt, dass die Zahl der Einwohner Deutschlands im erwerbsfähigen Alter (15 bis 67 Jahre) bis 2060 um gut 12 Millionen sinken wird, trotz moderater Einwanderung. Die bisherige „Lösung“ für solche Probleme, billige Arbeitskräfte, wahlweise aus verschiedenen Staaten Osteuropas, anzuwerben, stößt längst an ihre Grenzen, da in den jeweiligen Heimatländern ähnliche Probleme vorliegen. Denn auch in ganz Europa erwarten die vereinten Nationen einen starken Bevölkerungsrückgang, die Rede ist von mehr als 150 Millionen Einwohnern bis zum Jahr 2060.
Der Arbeitskräftemangel lässt sich anhand der Mitarbeiterqualifikationen in verschiedene Kategorien gliedern
Dieser Mangel an Arbeitskräften lässt sich in zwei verschiedene Kategorien aufteilen. Einmal gibt es den Mangel an Hochschulabsolventen und gut ausgebildeten Arbeitskräften, den sogenannten Fachkräftemangel. Allerdings existiert auch ein Mangel an un- oder geringqualifizierten Arbeitskräften. Während der Fachkräftemangel reichlich Beachtung in den Medien findet, bleibt der Mangel an un- oder geringqualifizierten Arbeitskräften oft unbeachtet. Dabei hat er schon jetzt dramatische Auswirkungen. Man denke an die fehlenden LKW-Fahrer 2021 in Großbritannien oder das Fehlen von Arbeitskräften auf deutschen Baustellen. Und es gibt Anzeichen, dass sich das Fehlen der einfachen Arbeitskräfte sogar noch dynamischer entwickelt als das der Fachkräfte.
Zum einen steigt die Anzahl der Personen mit einem höheren Bildungsabschluss seit Jahren konstant an. Während im Jahr 2006 nur 65,71% der Menschen in der EU einen mindestens sekundären Abschluss besaßen, waren es im Jahr 2021 bereits 75,18% (Quelle: Eurostat, EU jeweils ohne GB). Zum anderen gelten in Deutschland sehr strenge Einwanderungsgesetze für Nicht-Europäer ohne abgeschlossene Ausbildung oder ohne ein abgeschlossenes Studium. Dadurch ist es diesen Menschen fast unmöglich, in Deutschland zu arbeiten oder eine langfristige Aufenthaltserlaubnis zu bekommen.
Das alles lässt eine kurzfristige Entspannung des Arbeitsmarktes mehr als unwahrscheinlich erscheinen. Während dies im Fachkräftebereich zu Wohlstandsverlusten in der Gesellschaft führen kann, gibt es im Bereich der un- oder geringqualifizierten Kräfte durchaus Ansätze zur Linderung des Problems. Denn viele ihrer Tätigkeiten bieten ungenutzte Möglichkeiten zur Automatisierung. Dies kann von einzelnen Tätigkeiten bis hin zu ganzen Berufen gehen. Hierdurch kann die Produktivität nachhaltig gesteigert werden, während zeitgleich oft anstrengende, ungesunde oder gefährliche Arbeitsschritte wegfallen.
Dies führt uns zu folgender strategischen Hypothese:
Der Mangel an un- oder geringqualifizierten Arbeitskräften bietet eine große Chance für die Automatisierungsindustrie zur nachhaltigen Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit und des Wohlstandsniveaus der Gesellschaft. Dafür müssen Unternehmen der Automatisierungsindustrie neue Märkte erschließen und neue Automatisierungslösungen für viele weitere Tätigkeiten anbieten.
Die strategische Hypothese
Ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist hierbei das System des Kunden, also seine Prozesse, Tätigkeiten und aktuelle Situation, vollständig zu verstehen. Hierfür sollten Automatisierungsunternehmen im ersten Schritt das Produktionsumfeld ihrer Kunden oder prinzipiell ganze Berufe und Tätigkeitsfelder, die Aufgaben von un- oder geringqualifizierten Mitarbeitenden beinhalten, analysieren. Beim Erkennen möglicher Potenziale helfen einige grundsätzliche Fragen:
- Gibt es einen Arbeitskräftemangel für die Tätigkeit?
Wenn für die betrachtete Tätigkeit ein Mangel an Arbeitskräften existiert, ermöglicht dies den prinzipiellen Einstieg für die Automatisierungsindustrie. Durch Automatisierungslösungen kann entweder das Berufsbild aufgewertet werden oder der Bedarf an Arbeitskräften verringert werden, sodass sich Angebot und Nachfrage angleichen.
- Ist die Tätigkeit technisch umsetzbar?
Damit eine Automatisierungslösung entwickelt werden kann, sollte die anwendbare Technologie bereits vollständig oder zumindest weit ausgereift sein, sodass sie direkt nutzbar ist. Vor allem aber muss sich die zu ersetzende Tätigkeit prinzipiell auch mit einer technischen Lösung umsetzen lassen. Ein guter Indikator für die Automatisierbarkeit ist häufig der Grad der Regelmäßigkeit und der Schwierigkeit der Aufgabe.
- Ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis angemessen?
Der Mehrwert, der durch die Automatisierung geschaffen wird, muss die Real- und Opportunitätskosten für die Unternehmen übersteigen, damit sich die Investition lohnt. Dafür sollte, zusätzlich zu der automatisierten Tätigkeit, auch der Einfluss auf die Folgeprozesse betrachtet werden. Außerdem sollte zusätzlich die initiale Investitionsbereitschaft der Kunden in Betracht gezogen werden.
- Kann die Produktivität gesteigert werden?
Falls die Automatisierung effizienter und besser als der Mensch arbeitet, hilft dies nicht nur dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken, sondern auch die Arbeit zu beschleunigen und so die Produktivität zu steigern.
- Wird die Arbeitsbelastung für die Mitarbeiter verringert?
Wenn die Automatisierung besonders anstrengende oder vor allem gefährliche Tätigkeiten ersetzt beziehungsweise zumindest erleichtert, werden zusätzlich die Ausfallzeiten der Arbeitskräfte verringert und die Mitarbeiterzufriedenheit erhöht. Zudem werden die Mitarbeiter für andere Tätigkeiten frei.
- Welche anderen Barrieren könnten den Markteintritt erschweren?
Falls weitere, nicht klassifizierbare, Markteintrittsbarrieren existieren, ist es ratsam, diese genauer zu überprüfen und damit unliebsamen Überraschungen vorzubeugen.
Anhand dieser Fragen ist es nun möglich, den Use Case basierend auf seiner Attraktivität in eine der drei folgenden Kategorien einzuordnen.
„All in“: Diese Automatisierungslösungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie technisch umsetzbar sind, ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis haben und außerdem eine Tätigkeit ausführen, bei der Arbeitskräftemangel herrscht. Zusätzlich dürfen keine weiteren schwerwiegenden Markteintrittsbarrieren vorliegen. Je besser dabei auch die Effizienz gesteigert und die Mitarbeiterbelastung verringert werden kann, desto attraktiver wird der Use Case. In dieser Kategorie empfehlen wir eine detaillierte Marktanalyse und einen potenziellen Einstieg.
„Step Back“: Diese Automatisierungslösungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie mindestens eines der folgenden Attribute erfüllen oder anderweitige, unüberwindbare Markteintrittsbarrieren existieren: Sie sind technisch kaum umsetzbar, haben ein unzureichendes Kosten-Nutzen-Verhältnis oder führen eine Tätigkeit aus, in der nur ein geringer oder temporärer Arbeitskräftemangel herrscht. In dieser Kategorie ist der Markteintritt durch mehrere Faktoren stark erschwert oder durch Markteintrittsbarrieren unmöglich und dadurch unattraktiv. Ein Einstieg sollte nicht weiterverfolgt werden.
„Keep in Mind“: Automatisierungslösungen, die der Kategorie „Keep in Mind“ zugeordnet werden, zeichnen sich dadurch aus, dass sie zwei der folgenden Attribute erfüllen oder anderweitige hohe Markteintrittsbarrieren existieren: Sie sind technisch umsetzbar, haben ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis und führen außerdem eine Tätigkeit aus, die vom Arbeitskräftemangel betroffen ist. Da in dieser Kategorie noch nicht alle drei Attribute erfüllt werden, ist der Markteintritt aktuell erschwert und dadurch unattraktiv. Sobald dieser Faktor jedoch durch Veränderungen der Marktlage oder der technischen Möglichkeiten wegfällt, steigt der Use Case direkt zum „All in“ auf. Es kann sich lohnen, den Anwendungsfall im Kopf zu behalten, um im Bedarfsfall schneller als die Konkurrenz reagieren zu können.
Use Case
Ein gutes Beispiel eines „All in“ Use Case ist der Jaibot des Unternehmens Hilti. Der Hilti Jaibot ist ein semiautonomer Roboter, der im Baugewerbe für Deckeninstallationen, vor allem Deckenbohrungen, eingesetzt wird. Hierbei wird dem Jaibot mithilfe digitaler Plan-Daten mitgeteilt, wo zu bohren ist und welche Maße der Raum besitzt. Der Jaibot bohrt an den betreffenden Stellen und saugt parallel dazu den entstehenden Staub ab. Dies hat in der praktischen Anwendung drei wesentliche Vorteile gegenüber der manuellen Ausführung der Arbeit.
- Qualität: Der Jaibot bohrt genauer und zuverlässiger als es der Mensch jemals könnte. Dadurch steigt die Qualität auf der Baustelle enorm und es sind weniger Nachbearbeitungen notwendig.
- Effizienz: Durch seine schnellere Arbeitsweise, verbunden mit der verbesserten Qualität, ist der Jaibot in der Lage, deutlich mehr Bohrungen auszuführen als eine Person in der gleichen Zeit, und das ganz ohne müde zu werden oder Pausen zu benötigen. Diese Tätigkeit beschäftigt Arbeitskräfte auf großen Baustellen ansonsten oft über ganze Tage.
- Gesundheit: Das Über-Kopf-Bohren gilt als eine der anstrengendsten und gesundheitsschädlichsten Aufgaben auf dem Bau, daher ist der Wegfall dieser Tätigkeit eine große Verbesserung für die Arbeitenden.
Durch die gesteigerte Effizienz ist es möglich, den Arbeitskräftemangel auf dem Bau zu bekämpfen und die Kapazitäten der vorhandenen Arbeitskräfte für andere Aufgaben zu verwenden.
Welche Handlungen sollten Automatisierungstechniker aus dem Mangel an un- oder geringqualifizierten Arbeitskräften und seinen Folgen ableiten?
- Automatisierung weitläufiger denken: Um nachhaltig im Markt und gegen den Wettbewerb zu bestehen und den Wettbewerbern einen Schritt voraus zu sein, ist es wichtig, die Scheuklappen abzulegen und den Blick nicht nur auf die Produktionshallen, sondern auf die gesamte Wirtschaft zu richten.
- Markt/Arbeitskräftemangel fortlaufend analysieren: Ein fortlaufendes Screening und damit verbunden eine Analyse des Marktes und des Arbeitskräftemangels in den verschiedenen Branchen ermöglicht es den Unternehmen, Marktpotenziale frühzeitig zu erkennen und der Konkurrenz einen Schritt voraus zu sein.
- Marktpotenziale schnell und konsequent nutzen: Nach dem Erkennen eines Marktpotentials ist es wichtig, dieses genau zu analysieren und eine Strategie zu entwickeln, damit die Automatisierungslösung schnell und konsequent auf dem Markt angeboten werden kann.
Um bereits kurzfristig in neue Märkte einzusteigen, empfiehlt es sich, zunächst einfachste Hilfstätigkeiten und Ergänzungen zu manuellen Arbeiten anzubieten. Auf dieser Basis können weitere Informationen über die Tätigkeiten gesammelt werden, um daraus perspektivisch neue Automatisierungsanwendungen abzuleiten, und somit das eigene Produktportfolio fortlaufend auszubauen.
Der Arbeitskräftemangel wird Europa voraussichtlich noch lange beschäftigen. Solange dieser Zustand anhält, eröffnen sich zahlreiche Chancen für die Automatisierungsindustrie. Dies ermöglicht den Anbietern von Automatisierungslösungen, sich nachhaltige Wettbewerbsvorteile zu sichern und so in den Olymp ihrer Industrie aufzusteigen oder ihre Position zu halten. Für die Kunden bietet es die Chance, trotz des Arbeitskräftemangels, ihren Betrieb aufrechtzuerhalten und produktiver zu werden. Auch Hephaistos Schicksal bietet hier allen Grund zur Hoffnung, so half er doch dabei Athene, die Schirmherrin der Wissenschaft und Technik, aus Zeus Kopf zu befreien und auf die Welt zu bringen, sodass er endlich Unterstützung bekam.
Erdödy, S. / Kittelberger, D. / Natge, A.