Die Beziehungen zwischen Deutschland und China sind enger denn je. Mit einem bilateralen Handelsvolumen von 212,8 Milliarden Euro im Jahr 2020 ist China der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Allerdings mehren sich die Anzeichen, dass die deutsche Exportwirtschaft nach China von mehreren Seiten unter Druck gerät: Protektionismus, Wettbewerbsdruck und Entkopplung.
Handelsspannungen nehmen zu
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Rufe gegen die steigende Zahl von Zollschranken aus der deutschen Automatisierungsindustrie zu den lautesten innerhalb der deutschen Wirtschaft gehörten, als die USA unter dem früheren Präsidenten Donald Trump einen Handelskrieg gegen China begann, welcher seit dem Amtsantritt der neuen Biden-Administration vor etwa einem Jahr bisher noch nicht beendet wurde.
Wettbewerbsdruck aus China steigt
In den vergangenen zehn Jahren hat China eine lange Liste strategischer Initiativen angekündigt (und teilweise umgesetzt), wie beispielsweise die sogenannte Neue Seidenstraße. Begleitet wurde dies von intensiven M&A-Aktivitäten, wobei führende europäische Technologieunternehmen – insbesondere deutsche – das Ziel waren. Im Zeitraum von 2011 bis 2020 haben chinesische Investoren Mehrheitsbeteiligungen an 243 deutschen Betrieben erworben, darunter mehrere Firmen aus der Automatisierungsindustrie und dem verarbeitenden Gewerbe wie beispielsweise Kuka und Kraus-Maffei. Gleichzeitig gehen die Wettbewerbsbedingungen in China oft zu Lasten deutscher Unternehmen, da ausländischen Firmen nicht die gleichen Rechte eingeräumt werden wie chinesischen. Auch die Ratifizierung des bilateralen Investitionsabkommens würde nur die Bedingungen für Investitionen in China verbessern, nicht aber für Exporte in das Land. Der Wettbewerbsdruck in China wird zudem dadurch verstärkt, dass chinesische Betriebe in Sachen Innovationskraft merklich aufholen. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft hat ergeben, dass sich deutsche Firmen mehr Sorgen um den wachsenden Wettbewerb als um Protektionismus machen.
Ein weiterer Aspekt ist Chinas Strategie "Made in China 2025". Sie zielt darauf ab, China an die Spitze der industriellen Produktion und Innovation zu bringen und definiert zehn Zielindustrien, darunter auch die Automatisierungsbranche, die der Staat aktiv unterstützt. Die Automatisierung dürfte eine besondere Rolle spielen, da Chinas künftiges Wirtschaftspotenzial von Produktivitätssteigerungen abhängt, die nur durch Automatisierung erzielt werden können. Bereits 2013 wurde China zum weltgrößten Markt für Industrieroboter und macht inzwischen rund 44 Prozent der Gesamtinstallationen aus. Dies wird durch eine weitreichende Entwicklung der chinesischen Wirtschaft von einer ressourcenintensiven, kostengünstigen Werkbank für die Welt hin zu einem Technologieführer begünstigt.
Entkopplung Chinas birgt Ungewissheit
Im Jahr 2020 ging Präsident Xi Jinping noch einen Schritt weiter und prägte den Begriff "Entkopplung" von Chinas Wirtschaft und System. Seitdem ist der Begriff vielfach und oft uneinheitlich interpretiert worden.
Doch was bedeutet Entkopplung? Das deutsche Bundeswirtschaftsministerium beschreibt es wie folgt: "Mithilfe des Modells Dual Circulation soll die chinesische Binnenwirtschaft und der Binnenkonsum gestärkt werden, um bestehende Abhängigkeiten von der globalen Wirtschaft zu verringern und die chinesische Wirtschaft gegenüber externen Risikofaktoren widerstandsfähiger zu machen. Der Austausch mit der Weltwirtschaft soll als 'externer Wirtschaftskreislauf' eine ergänzende, aber nicht mehr (…) dominierende Rolle spielen. (...)." Alle seriösen Interpretationen haben gemein, dass nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, was dies für nicht-chinesische Unternehmen, die in China tätig sind, bedeutet. Es ist daher nicht überraschend, dass drei von fünf deutschen Betrieben, die nach China exportieren oder dort produzieren, auf eine robustere Handels- und Investitionspolitik drängen, um Wettbewerbsverzerrungen entgegenzuwirken.
Drei mögliche Szenarien – von stark wachsendem Wettbewerb bis hin zu vollständiger Entkopplung
Angesichts der anhaltenden Handelsspannungen zwischen China und den USA, des zunehmenden Wettbewerbsdrucks und der Entkopplungsbestrebungen Chinas ergeben sich für deutsche Automatisierungsunternehmen in China drei mögliche Szenarien für die Zukunft:
- Stark wachsender Wettbewerb
Dieses Szenario beschreibt im Wesentlichen eine Fortsetzung des Status quo, während "die Temperaturen langsam sinken": Der Wettbewerbsdruck im chinesisches Markt wird zunehmen. Damit einhergehend wird der technologische Vorsprung schrumpfen, da sich immer mehr chinesische Unternehmen von Herstellern ausreichend guter Produkte zu anspruchsvolleren Technologieführern entwickeln. Gleichzeitig wird die kommunistische Partei ihren Einfluss auf die Wirtschaft und ausländische Betriebe weiter verstärken. Der chinesische Markt bleibt jedoch für ausländische Unternehmen offen. - Entkopplung light
Bestimmte Sektoren der chinesischen Wirtschaft werden sich entkoppeln und insgesamt für ausländische Unternehmen "geschlossen", was insbesondere für die sogenannten Zielindustrien wahrscheinlich ist. Die Gründlichkeit dieser Schließung kann je nach Branche variieren und im schlimmsten Fall ganze Teile der Wertschöpfungskette umfassen. Die Wettbewerbsintensität wird drastisch zunehmen und nicht an den Grenzen Chinas Halt machen. Sie wird höchstwahrscheinlich auch den deutschen Markt verändern, da deutsche Unternehmen aufgrund chinesischer Kostenführerschaft in ihren eigenen Märkten mit Marktveränderungen konfrontiert werden. Es ist schwer vorherzusagen, wie die USA und die EU auf eine solche Situation reagieren werden. Wahrscheinlich wird es nicht zu einem einheitlichen Vorgehen zwischen den beiden Partnern gegenüber China kommen. - Volle Entkopplung
Die chinesische Wirtschaft wird sich in großem Umfang entkoppeln und zu einem weitgehend geschlossenen Kreislauf, von dem die meisten ausländischen Unternehmen aufgrund von Zöllen oder gewollten administrativen Hürden ausgeschlossen werden. Dieser Kreislauf wird auch Komponenten von Fertigprodukten einschließen und damit fast die gesamte Wertschöpfungskette umfassen, mit einigen wenigen Ausnahmen, bei denen auf ausländische Produkte/Dienstleistungen zurückgegriffen werden muss. Darüber hinaus wird die chinesische Regierung offensiv die internationale Expansion einheimischer Unternehmen unterstützen, soweit dies angesichts des zu erwartenden politischen Drucks aus den USA und der Europäischen Union möglich ist.
Eine „Entkopplung light“ wird eintreten. Bestimmte Sektoren der chinesischen Wirtschaft werden teilweise entkoppelte Zyklen bilden, während die Wirtschaft im Allgemeinen unter verschärftem Wettbewerb und einer allgegenwärtigen kommunistischen Partei offenbleiben wird.
Die strategische Hypothese
Was bedeutet „Entkopplung light“ für die deutsche Automatisierungsindustrie?
Die möglichen Auswirkungen auf die deutsche Automatisierungsindustrie in den kommenden Jahren lassen sich in vier Kategorien zusammenfassen:
1. Marktentwicklung
Die Bertelsmann Stiftung prognostiziert in einer aktuellen Studie, dass Chinas Wirtschaft in den 2020er-Jahren moderat zwischen 4 und 6 Prozent pro Jahr wachsen wird, was für die Automatisierungsbranche ein jährliches Wachstum von 3 Prozent bedeuten kann. Die angestrebte Stärkung des Binnenkonsums wird zu einem vorübergehenden Anstieg der Nachfrage nach technologisch hochwertigen (Vorleistungs-)Produkten führen und damit zusätzliche Geschäftsmöglichkeiten für deutsche Automatisierungsunternehmen schaffen – insbesondere für die bereits vor Ort produzierenden.. Dennoch wird es der chinesischen Regierung gelungen sein, die Technologielücke (bis zu 70-80 Prozent) in vielen Bereichen zu schließen. Deutsche Automatisierungsbetriebe stehen immer noch an der Spitze der Technologiepyramide, während chinesische Unternehmen vor allem die Elemente der niedrigen und mittleren Technologiepyramide aufgegriffen haben, aber auch bereits vereinzelt in Hochtechnologiesegmente vordringen. Folglich wird erwartet, dass das Wachstum und die Exportzahlen der deutschen Automatisierungsunternehmen im Jahr 2025 ein Plateau erreichen und danach entweder auf diesem Plateau bleiben oder sogar leicht schrumpfen werden.
2. Strategische M&A-Aktivitäten
Auch wenn der Fünfjahresplan die Förderung unabhängiger Forschung und Innovation vorsieht und betont, wird China nicht auf den Wissens- und Technologietransfer verzichten wollen, um seine Ziele zu erreichen. Es ist daher davon auszugehen, dass sich chinesische Direktinvestitionen noch stärker auf die Zielbranchen von "Made in China 2025" konzentrieren werden. In der Vergangenheit wurden nach Angaben der Bertelsmann Stiftung rund 15 Prozent der Unternehmensbeteiligungen im Zusammenhang mit "Made in China 2025" in der Automatisierungsbranche erworben. Folglich ist weiterhin mit gezielten Akquisitionen im unmittelbaren Umfeld zu rechnen.
3. Wettbewerb
Der Wettbewerbsdruck auf dem chinesischen Markt wird weiter zunehmen. Der klare Fokus der Strategie ("Made in China 2025") liegt darauf, chinesische Unternehmen in die Lage zu versetzen, die technologische Lücke zu schließen. Dies wird durch die Entkopplungsambitionen von Präsident Xi Jinping untermauert, was bedeutet, dass chinesische Automatisierungsbetriebe weiterhin vom chinesischen Staat unterstützt werden (entweder direkt durch Subventionsprogramme oder indirekt durch Handelsinstrumente etc.). Deutsche Unternehmen, die nicht in China produzieren, werden wahrscheinlich noch stärker betroffen sein als diejenigen, die bereits in China tätig sind. Darüber hinaus werden chinesische Automatisierungsbetriebe bald Märkte in Übersee wie jene der EU ins Visier nehmen oder haben dies bereits getan. Wie sich dies auswirkt, wird im Wesentlichen davon abhängen, wie die EU dieser Entwicklung entgegenwirken wird.
4. Wertschöpfungskette
Am deutlichsten wird die Entkopplung bei den Wertschöpfungsketten der Automatisierungsunternehmen. Der derzeitige "Krieg" in der Halbleiterindustrie ist ein alarmierendes Beispiel dafür, was passiert, wenn eine Branche in den Mittelpunkt des Interesses zweier Supermächte gerät. Große Teile der Wertschöpfungskette von Halbleitern sind bereits entkoppelt, und dieser Prozess setzt sich fort. Da sich der politische Schwerpunkt verlagern kann, werden wahrscheinlich auch die Wertschöpfungsketten (oder Teile davon) von Automatisierungsunternehmen gestört werden. Dies gilt insbesondere für IT-bezogene Komponenten, bei denen die Gefahr eines erzwungenen Wissensabflusses besteht. Für Firmen, die in China produzieren, werden chinesische Geschäftspartner den Druck erhöhen, die für die Produktion benötigten Komponenten von chinesischen Unternehmen zu beziehen – selbst wenn diese qualitativ nicht gleichwertig sind und daher Wettbewerbsnachteile verursachen. Neben der verstärkten Lokalisierung der Lieferkette muss im Extremfall auch mit einer Divergenz der Standards gerechnet werden, die eines der größten Geschäftsrisiken im Zuge der Entkopplung darstellt.
Deutsche Unternehmen der Automatisierungsbranche sollten ihre aktuelle Situation bewerten und gemäß der aufgezeigten Handlungsfelder reagieren:
OBSERVE – Deutsche Automatisierungsunternehmen, die ihr Geschäftsmodell und ihre Produkte noch nicht betroffen sehen, müssen es sich zur täglichen Aufgabe machen, die Situation in China genau zu beobachten. Die meisten Firmen sind es gewohnt, die Wettbewerbslandschaft im Blick zu haben, schneiden aber bei der Beobachtung der politischen Landschaft eher schlecht ab. Im Falle Chinas ist dies umso dringlicher, da Wettbewerb und Politik (in diesem Fall der Staat selbst) untrennbar miteinander verwoben sind.
ACCEPT AND ADAPT – Deutsche Automatisierungsunternehmen, die bereits Entkopplungstendenzen bemerket haben, müssen akzeptieren, dass die kommenden Jahre ein erhöhtes Maß an Ungewissheit mit sich bringen und komplexe Strukturen erfordern, die es erlauben, in beiden Systemen flexibel zu agieren. Sie sollten allerdings nicht beim Erkennen Halt machen, sondern rechtzeitig zur Etablierung solcher Strukturen übergehen. Dies wird mit erhöhten Strukturkosten einhergehen und das Working Capital erhöhen. Die größten Herausforderungen liegen in der Festlegung von Strategien, Investitionen und dem Management der Wertschöpfungskette.
RUN – Unternehmen, die ihr Geschäftsmodell und ihre Produkte stark von Entkopplungsverschiebungen betroffen sehen, sollten umgehend handeln. Sie haben erkannt, dass wichtige Komponenten bereits von der Entkopplung betroffen und wachsende Teile ihres Geschäftsmodells bedroht sind. In diesem Fall müssen Strategien ausgearbeitet werden, die es ermöglichen, trotz allem in China tätig zu sein. Diese Strategien sollten Wertschöpfungsketten, Qualitätskonzepte, Wettbewerbsstrategien, politische Analysen und die Suche nach möglichen Alternativen in Bezug auf Produktionsstandorte (wie Vietnam) umfassen, falls dies erforderlich sein sollte. Der erste Schwerpunkt sollte jedoch auf der Integrität der Wertschöpfungskette und auf Maßnahmen zur Verteidigung des Geschäftsmodells liegen. Schließlich gilt es, die eigenen Ziele und Werte zu überprüfen sowie zu bewerten, wie und ob diese noch mit dem sich verändernden Umfeld zusammenpassen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die deutsche Automatisierungsbranche mit zunehmender Komplexität, verschärftem Wettbewerb, sich verändernden Produktportfolios und steigenden Strukturkosten konfrontiert sein wird. Diese Entwicklungen müssen aktiv gestaltet werden. Es ist unerlässlich, Strategiediskussionen im eigenen Unternehmen mit dem klaren Ziel zu führen, handlungsfähige strategische Antworten zu entwickeln – bevor die Temperaturen sinken.
Heister, T. / Erdödy, S. / Weinrich, J. / Kittelberger, D.