Ärztliche Ferndiagnosen waren in Deutschland aus rechtlichen Gründen lange Zeit nicht möglich. Andere EU-Länder wie Estland gingen diesen Schritt schon eher. Trotz der frühen Vision einiger hiesiger Start-ups, die sich für eine telemedizinische Zukunft in Deutschland positionierten, dauerte es bis Mai 2018, als auf dem Deutschen Ärztetag das Fernbehandlungsverbot aufgehoben wurde. Dieses wird mittlerweile auch überwiegend von den Landesärztekammern getragen. Seitdem dürfen Patienten also über die Ferne (telemedizinisch) diagnostiziert und therapiert werden. Bei Playern wie der Münchner TeleClinic, DrEd (seit 2019 Zava) oder auch Fernarzt.com der Berliner HealthTech-Schmiede Heartbeat Labs war die Freude darüber groß. Der erhoffte Schwung blieb zunächst aber hinter den Erwartungen, da sich Deutschland mit der breiten Akzeptanz und flächendeckender Infrastruktur anfänglich eher schwergetan hat. Im Zuge der Pandemie rund um COVID-19 hat sich diesbezüglich jedoch einiges getan – die Stunde der Telemedizin hat auch hierzulande begonnen.
Kritiker hatten seit der Lockerung im Jahr 2018 stets weiterhin eine klare Meinung. So wird aus ärztlicher Sicht die generelle Belastbarkeit von Ferndiagnosen in Frage gestellt, insbesondere bei Neupatienten, wo sich Arzt und Patient noch nicht gut kennen und eine etwaige Krankenhistorie nicht vollumfänglich bekannt ist. Bedenken bei Datenschutz und Sicherheit, beispielsweise beim elektronischen Austausch sensibler Patientendaten, spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Ferner wird das Risiko möglicher Ausnutzung durch einfacheren Zugang genannt, etwa durch das Erschleichen von Krankschreibungen oder Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen.
Angesichts der derzeit weltweiten gesundheitlichen Krisenlage durch das Coronavirus verhallen die Worte von Kritikern jedoch, da die Vorteile der Telemedizin in überraschender Schnelligkeit deutlich wurden. Bekanntermaßen wurde das Virus zu Beginn seiner Ausbreitung in Europa unterschätzt. Ahnungslose Patienten in überfüllten Praxen haben in der Anfangsphase mitunter sicherlich auch zu einem Multiplikatoreffekt geführt. Gerade unnötige Arztbesuche sollten dieser Tage aber vermieden werden. Ein gut aufgestelltes telemedizinisches Angebot kann hier als Katalysator wirken – besorgte Patienten mit Symptomen jeglicher Art haben einen digitalen Ansprechpartner, können die nächsten Schritte sicher aus der Ferne besprechen und reduzieren das Risiko einer Weitergabe oder eigenen Ansteckung. In Ballungszentren kommen allgemeine Vorteile wie die Verringerung von Wartezeiten oder Erreichbarkeit der Praxen hinzu. Auch Termine können besser vergeben, wahrgenommen und effektiver genutzt werden. Langem Sitzen in Wartezimmern ist durch Telemedizin Abhilfe geschaffen, im ländlichen Raum verkürzen sich zudem die Wege und der nächste Arzt muss nicht mehr zwingend einige Orte weiter aufgesucht werden. Patienten können mit Ausrollen des E-Rezeptes ab 2021 wichtige Medikamente zudem elektronisch anfordern und sich diese über eine Online-Apotheke direkt und unkompliziert nach Hause liefern lassen. Während all das die Customer Experience von Patienten bzw. Versicherungsnehmern deutlich verbessert, birgt eine effektive Nutzung von Telemedizin als Ergänzung für Krankenversicherer auch Kostenvorteile. Beispielsweise lassen sich im Falle einer telemedizinischen Überwachung chronisch kranker Patienten Behandlungs- und Fahrtkosten aufgrund des Ausbleibens häufiger Präsenztermine in der Praxis deutlich reduzieren, ohne dabei Abstriche bei der Betreuungs- oder Beratungsqualität machen zu müssen.
Die aktuelle Krise zeigt, wie bunt der Markt inzwischen ist. Bestehende Player verstehen es, diese als Chance für sich zu nutzen und mit verschiedenen Angeboten sowie Informationen rund um das Virus einen positiven Beitrag zu leisten. Einmalig kann man beispielsweise bei TeleClinic und Kry eine kostenlose Coronavirus-Videosprechstunde bekommen. Fernarzt.com bietet eine kostenlose telefonische Beratung und, ebenfalls wie Go Spring, einen Online-Symptome-Checker basierend auf einem Fragebogen. In der Schweiz ist Medgate durch das Bundesamt für Gesundheit sogar als offizieller Betreiber einer Infoline zu Corona beauftragt. Auf Seiten der Erstversicherer betreibt die Allianz mit dem Partner Medi24 den Service „Doc-on-Call“. Je nach Tarif stehen Kunden der Kranken- und Zusatzversicherungen dabei unterschiedliche Funktionen bereit.
Die AXA gibt an, dass sich inzwischen bereits 45 Prozent der Deutschen vorstellen können, ihren Arzt zumindest gelegentlich per Video zu konsultieren – dieser Zuspruch wird nach Corona noch deutlich höher sein. Durch Ausgangs- und Kontaktverbote sind viele Patienten digital erprobter als noch vor der Krise, haben mit ihren Kolleginnen und Kollegen teils ausschließlich virtuell kommuniziert. Auch Videochats mit dem Arzt sind nun kein Tabuthema mehr und Versicherungsnehmer werden künftig gezielter nach digitalen Angeboten und Zusatzdienstleistungen im Bereich Kranken fragen. Versicherer sollten die aktuelle Situation daher zum Anlass nehmen, sich bei telemedizinischen Angeboten in Stellung zu bringen oder das bestehende Offering weiterzuentwickeln. Mehrere Ansätze strategischer Partnerschaften sind dabei im Markt zu beobachten. So hat mit der R+V Ende März ein weiterer Versicherer die Dienste der TeleClinic für seine Krankenvollversicherten lanciert. Ein anderes Modell wurde jüngst durch die Bayerische und Barmenia ins Leben gerufen, wo telemedizinische Beratung als zubuchbarer Baustein für 9,80 Euro im Monat sowohl für privat als auch für gesetzlich Versicherte möglich ist. Hierbei sind die beiden Versicherer eine strategische Partnerschaft mit dem deutschen Ableger von Medgate aus der Schweiz eingegangen. Allgemein bieten solche Partnerschaften dem Versicherer die Möglichkeit, Preise und Angebotsumfang mitgestalten zu können, Versicherungsnehmer sind dann aber auch meistens an den jeweiligen telemedizinischen Partner gebunden. Einen noch umfangreicheren und sehr interessanten Schritt ist zuletzt die AXA durch eine strategische Partnerschaft mit der internationalen Hotelkette Accor eingegangen. Gäste mit Symptomen sollen ab Juli telemedizinisch direkt vor Ort Zugang zu verschiedenen Gesundheits- und Assistance-Leistungen erhalten. Mit Blick auf die in Europa nun langsam wieder hochfahrende Reiseaktivität ist dies sicherlich ein cleverer Schachzug.
Für die Ausgestaltung telemedizinischer Services ist das Vorgehen der AXA beispielgebend: Die Reisebedenken der Kunden werden reduziert und das Versicherungsunternehmen erhöht seine Alltagsrelevanz deutlich und rückt sich als Partner stärker in den Fokus. Neben einer langfristigen und gesunden Kundenbeziehung fördert dies für den Versicherer letztendlich auch Potenziale für Cross- und Up-Selling.
Krankenversicherer sollten den Markt daher jetzt sondieren und das für ihre Kunden und Tarife ideale telemedizinische Leistungsportfolio definieren bzw. ausbauen sowie die passenden Partnerschaften mit Serviceanbietern schließen. Sprechen Sie uns bei Unterstützungsbedarf dazu gerne an.
Müller, M. / Schlicht, F.
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Martin Müller