Faktencheck zur Erdgasversorgung: Sechstel des europäischen Erdgasbedarfs kann ohne Russlandimporte nicht kurzfristig ersetzt werden

Die Bundesregierung plant, sich bis Jahresende von Kohle und Öl aus Russland unabhängig zu machen. Auf russisches Erdgas kann nach Einschätzung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz so schnell nicht verzichtet werden, hier wird ein Ausstieg bis Mitte 2024 anvisiert. Einen Importstopp russischer Energien lehnt die Bundesregierung aus Gründen der Versorgungssicherheit ab.

Bei dieser Entscheidung dürfte auch das Risiko einer Liquiditätskrise von Versorgern und Stadtwerken eine Rolle spielen, das im Falle eines Gasboykotts akut wäre. Größere Gasvorlieferanten in Deutschland wie RWE, Uniper oder VNG stehen vertraglich in der Lieferpflicht – mit hohen Liquiditätsforderungen aufgrund von Mengen und Preisrisiken. Diese haben sich zum größten Teil von der Bundesregierung bereits zusätzliche Kreditlinien genehmigen lassen. „Eine mögliche Liquiditätskrise von größeren Gasvorlieferanten in der Energieversorgung würde sich auf alle EVUs und Stadtwerke ausweiten“, so Matthias Deeg, Energieexperte der Managementberatung Horváth. „Wenn etwa die Lieferverpflichtungen für die Vorlieferanten nicht mehr gelten würden aufgrund von ,höherer Gewalt‘, hätte dies zur Folge, dass Versorger und Stadtwerke selbst in eine existenzielle Liquiditätskrise rutschen können.“

Doch wie steht es um Bedarf und Verfügbarkeit, wenn Gaslieferungen aus Russland kurzfristig ausbleiben, weil sich der Konflikt verschärft? Wie abhängig sind Deutschland und Europa derzeit noch von russischem Gas – und vor allem: Welches Potenzial besteht, die fehlenden Mengen kurzfristig zu ersetzen? Diese Fragen haben die Managementberatung Horváth und das Energie-Consulting-Startup evety in der am Montag veröffentlichten Analyse „Versorgungssicherheit mit Erdgas in Deutschland und Europa“ untersucht.

Flüssiggasimporte mit größtem Steigerungspotenzial

Mehr als die Hälfte des in Deutschland verbrauchten Erdgases von jährlich 86,5 Milliarden Kubikmetern stammt aus Russlandimporten. In Summe importiert die Bundesregierung mehr Erdgas als alle anderen europäischen Länder aus Russland und angeschlossenen Förderregionen. Über alle europäischen Staaten hinweg liegt der Anteil der russischen Importe bei 36 Prozent im Mittel der letzten Jahre. Aktuell stammen 41 Prozent des in Europa verbrauchten Erdgases aus eigener Produktion, was einem Volumen von fast 220 Milliarden Kubikmetern entspricht. Nach Berechnung von evety und Horváth kann diese Menge kurzfristig um höchstens 13 Prozent auf etwa 248 Milliarden Kubikmeter gesteigert werden. Bei den Pipeline-Importen aus Afrika ist der Analyse zufolge eine bis zu 55-prozentige Steigerung der Bezugsmenge möglich. Durch Zusatzlieferungen aus den afrikanischen Staaten könnten insgesamt 39 Milliarden Kubikmeter Erdgas durch die Pipelines nach Europa transportiert werden.

Im Bereich der Flüssiggasimporte ist es der Analyse zufolge möglich, durch eine Auslastungssteigerung der LNG-Terminals – also Häfen, in denen “Liquefied Natural Gas“ umgeschlagen wird – die Bezugsmengen von 115 Milliarden Kubikmetern Flüssiggas auf etwa 182 Milliarden Kubikmeter zu erhöhen. Das entspricht einer 58-prozentigen Steigerung. Bestehende Terminals müssten dazu von der aktuell unter 50-prozentigen Auslastung auf 90 Prozent getrimmt werden. Deutschland verfügt bislang über kein einziges LNG-Terminal. Die Bundesregierung plant den Bau von zwei Flüssiggas-Häfen, mit deren Fertigstellung vor wenigen Monaten nicht vor 2026 zu rechnen war. Derzeit wird jedoch intensiv geprüft, ob eine frühere Fertigstellung des Standorts in Wilhelmshaven beschleunigt werden kann.

Potenzial alternativer Bezugsquellen reicht nicht aus

Selbst wenn das Steigerungspotenzial in allen Bezugsquellen ausgereizt wird, verbleibt eine Lücke von etwa 15 Prozent benötigter Erdgasmengen in Europa. Bei diesem Wert sind Temperaturschwankungen unberücksichtigt, die nach oben oder unten fünf bis zehn Prozent bedeuten können. Insbesondere für Deutschland mit seiner starken Russlandabhängigkeit stellt diese Lücke ein großes Problem dar, denn der deutsche Erdgasbedarf wird sich der Analyse zufolge auch bis 2030 noch nicht relevant ändern: Macht Erdgas aktuell noch etwa 26 Prozent des hierzulande benötigten Primärenergiebedarfs aus, wird der Anteil in acht Jahren sogar auf zwischenzeitlich 30 Prozent steigen und erst dann langsam fallen. Zwar sinkt aufgrund der Energieeffizienzmaßnahmen der Gesamtbedarf an Primärenergie, jedoch wirkt sich das zunächst auf andere Energieträger aus.

Global betrachtet müsste die Erdgasfördermenge aller anderen Staaten um 8,5 Prozent angehoben werden, um ohne russische Gasexporte auszukommen. Vorausgesetzt, die weltweiten Verbrauchsmengen bleiben konstant und die Fördermengen werden wie beschrieben gesteigert, reichen die Erdgasvorkommen laut der Analyse ohne russische bzw. GUS-Quellen noch mindestens 40 Jahre zur Versorgung aller Länder ohne Russland/GUS. „Das Problem ist: Weder die Welt noch Europa können die Belieferung von Energie in die einzelnen Staaten steuern. Das bedeutet: Jedes Land muss seine eigene Strategie entwickeln, um russische Importe zu substituieren“, so Deeg.

Erdgas könne in Deutschland weder kurz- noch mittelfristig ohne weiteres durch Wasserstoff und erneuerbare Energien ersetzt werden. Zu 80 Prozent wird das hier verbrauchte Erdgas zur Wärmeerzeugung verwendet, konkret für Gebäudebeheizung, Industrieprozesse und den Betrieb erdgasbasierter KWK-Anlagen (Kraft-Wärme-Kopplung) zur Wärmegewinnung. Die übrigen 20 Prozent entfallen auf die Stromerzeugung durch KWK-Anlagen.

Vier konkrete Maßnahmen zur kurzfristigen Reduktion des Erdgasbedarfs

Konkret empfiehlt das Studienteam von evety und Horváth für Deutschland folgende Maßnahmen zum kurzfristigen Ausgleich fehlender Erdgasmengen:

  • Stromerzeugung durch Gaskraftwerke verringern und ersetzen: Um die von Gaskraftwerken zur Stromerzeugung benötigten Erdgasmengen zu verringern, sollten bestehende Kohle- und Atomkraftwerke bei der Stromproduktion stärker ausgelastet werden.
  • Gas-KWK herunterfahren: Erdgasbasierte Anlagen zur Kraft-Wärme-Kopplung (KWK), etwa Blockheizkraftwerke, herunterfahren. Die Stromerzeugung durch KWK-Anlagen sollte durch andere Kraftwerke (Kohle oder Atom, siehe 1.) ausgeglichen werden. Wärme könnte vermehrt durch Spitzenlastkessel mit geringerem Erdgasbedarf erzeugt werden.
  • Industriellen Erdgasverbrauch reduzieren: Prozesse, für die durch Erdgas gewonnene Energie genutzt wird, abregeln beziehungsweise auf alternative Energieträger wie grünen Wasserstoff umstellen.
  • Raumtemperatur in Gebäuden senken: Bereits eine um 1 Grad Celsius reduzierte Raumtemperatur in allen Gebäuden in Deutschland kann den hiesigen Erdgasbedarf um 2,5 Prozent reduzieren.

Langfristige Maßnahmen zur Sicherung der Versorgung

Industrie und Kommunen brauchen auf lange Sicht dringend weitere Maßnahmen zur Sicherung der Versorgung. Das Studienteam von evety und Horváth empfiehlt, Wasserstoff aufgrund seiner erhöhten Wirtschaftlichkeit zukünftig stärker bei der Substitution von Kohle, Gas und Öl zu berücksichtigen.

  • Steigende Stromerzeugung aus fluktuierenden Erneuerbaren Energien nutzen: Die Überproduktion von Erneuerbaren Energien wird von aktuell etwa fünf Prozent auf bis zu 50 Prozent im Jahr 2030 steigen. Die überschüssige Energie wird heute abgeregelt oder zu extrem günstigen Konditionen exportiert. Dieses Potenzial kann durch Elektrolyseure sinnvoll zur Produktion von Wasserstoff und damit zur Substitution von Erdgas genutzt werden.
  • Kostendegressionen bei der Erzeugung von Wasserstoff realisieren: Die Kosten für Elektrolyseure werden durch Skaleneffekte bis 2030 massiv, um bis zu 85 Prozent sinken. Verbunden mit zunehmend günstiger werdenden Gestehungskosten von Strom aus Erneuerbaren Energien wird Wasserstoff damit schnell konkurrenzfähig – bei aktuellen Erdgaspreisen bereits heute, es fehlt schlicht die Erzeugungskapazität.
  • Technologieoffenheit bei der Erzeugung von Wasserstoff anstreben: Der schnelle Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft braucht geeignete Infrastrukturen. Diese benötigen zum wirtschaftlichen Erfolg schnell große Wasserstoffmengen. Dieser Zirkelbezug kann mit Technologieoffenheit bei der Wasserstofferzeugung schnell aufgelöst werden. Die Diskussion über nicht-regenerativen Wasserstoff mit reduziertem CO2-Ausstoß, z. B. blauer Wasserstoff aus Katar, wurde lange vermieden, kommt mit der aktuellen politischen Lage aber deutlich in Gang.
  • Beschaffungs- und Preisstabilität durch Erneuerbare Energien nicht unterschätzen: Konventionelle Energieträger bringen aufgrund ihrer ungleichen geografischen Verteilung und politischer Einflussnahme Versorgungs- und Preisrisiken mit sich. Erneuerbare Energien durch Nutzung von Wind und Sonne können in einem deutlich größeren geografischen Bereich sinnvoll erzeugt und als Wasserstoff oder dessen Derivate (z. B. Ammoniak) nach Deutschland gebracht werden. Damit kann Deutschland nachhaltig, vor allem aber auch sicher mit Energie versorgt werden. Dies ist insbesondere für die Industrie, die bei Engpässen zuerst abgeschaltet wird, überlebenswichtig.

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