Interview mit Simon Seiter, Deutsche Börse

"Durch DLT lässt sich ein neues Effizienzniveau erreichen"

Simon Seiter verantwortet den Bereich Digital Assets bei der Deutschen Börse. In seiner Funktion schafft er mithilfe der Distributed Ledger Technology (DLT) Infrastrukturmöglichkeiten zum Handel von digitalen Assets. Bereits während seiner Zeit als Inhouse Consultant bei der Commerzbank begleitete er verschiedene Initiativen im Blockchain-Umfeld.

Im Interview mit Horváth spricht Simon Seiter über das Potenzial von DLT, Hürden in der Anwendung sowie Auswirkungen auf Organisationen. Dabei gibt er interessante Einblicke in die aktuellen Tätigkeiten der Deutschen Börse.

HERR SEITER, WIE SIND SIE MIT DEM THEMA BLOCKCHAIN BZW. DLT IN BERÜHRUNG GEKOMMEN?

SIMON SEITER / Das erste Mal habe ich mich 2015 damit beschäftigt. Anfang 2016 durfte ich für die Commerzbank mögliche Anwendungsfälle hinsichtlich Umsetzbarkeit, Wirkung und disruptiven Faktoren analysieren. Als die Commerzbank im Jahr 2017 das DLT-Lab gründete, unterstrich sie damit schon damals die strategische Relevanz dieses Themas. In diesem neu geschaffenen organisatorischen Rahmen konnte ich primär im Bereich Kapitalmarkt und Zahlungsverkehr weitere Anwendungsfälle begleiten. Von Beginn an durfte ich die erste Begebung eines Wertpapiers auf DLT-Basis in Kooperation mit der KfW und der Munich RE durchführen. Zusätzlich habe ich in meiner Zeit bei der Commerzbank Cash on Ledger mit eingeführt. Dabei habe ich den Prozess der Genehmigung und die ersten Transaktionen verantwortet. Zudem habe ich die Einführung des ersten digitalen Wertpapiers gemeinsam mit Siemens und Continental als Emittenten begleitet. Ende 2019 hat es mich dann zur Deutschen Börse verschlagen, wo ich mich in meiner Rolle als Head of Digital Assets gemeinsam mit meinen Kollegen damit befasse, wie eine Infrastruktur für die neue Technologie geschaffen werden kann, sodass Anwendungsfälle realisiert werden können.

WIE SCHÄTZEN SIE PERSÖNLICH DAS AKTUELLE POTENZIAL VON DLT IN BEZUG AUF BANKEN UND VERSICHERUNGEN EIN?

SIMON SEITER / Generell lässt sich sagen, dass diese Technologie uns ein neues Effizienzniveau erreichen lässt. Der Fortschritt durch DLT ist für mich vergleichbar mit der Disruption des physischen Handels durch den elektronischen Handel. Man kann einige Sachen schon erahnen, die wir durch Transaktionen bereits zu zeigen versuchten. Doch ich glaube, dass das Meiste noch nicht bekannt ist, weil die Kreativität fehlt, alle Möglichkeiten zu antizipieren. Wir denken zwar schon an vieles, jedoch gibt es sicher auch Vorstellungen, die nicht realisiert werden können. Aber ich bin überzeugt, dass es eine tiefgreifende Veränderung geben wird und dass der neue mögliche Handel, ausgehend von dem aktuellen elektronischen Handel, zumindest für den Kapitalmarkt eine neue Ära sein kann.

DIE DEUTSCHE BÖRSE IST TEIL DES LIQUID SHARE CONSORTIUM, WELCHES SICH MIT DEM THEMA CENTRAL BANK DIGITAL CURRENCY (CBDC) BESCHÄFTIGT. IN WELCHEM EINSATZGEBIET SEHEN SIE PERSÖNLICH DAS GRÖßTE POTENZIAL? WO WIRD DIE DISRUPTION AM GRÖßTEN SEIN?

SIMON SEITER / Das größte Potenzial sehe ich im Wertpapierbereich. Wir haben im Zahlungsverkehr bereits heute einen hohen Grad an Digitalisierung. Diesen werden wir zwar steigern können, doch das ist aktuell nicht mehr der Fokus. Sprechen wir vom Zahlungsverkehr, geht es für uns um den Finanzmarkt und nicht um die Realwirtschaft, da wir als Infrastrukturanbieter nicht im Bereich Zahlungsverkehr aktiv sind, sondern eher im Wertpapierbereich. Hier haben wir aktuell noch die Herausforderung, dass Wertpapiere – aus gutem Grund – ein hoch reguliertes Thema sind. Aufgrund dieser Regulatorik haben wir sehr aufwendige Prozesse. Auch das ist erstmals positiv, denn bisher war es nicht anders möglich. Einfach gesprochen beinhalten diese Prozesse, dass jeder separat prüft.

Viele werden glauben, dass alle Rollen im gesamten Konstrukt abgeschafft werden. Doch in den durchgeführten Transaktionen haben wir gesehen, dass dies nicht so ist. Die Nutzung der Technologie wird nicht nur effizienter werden, sondern Transaktionen deutlich weniger riskant. Das birgt auf Dauer auch im regulatorischen Sinne hohes Potenzial, weil der Regulator eine viel präzisere Sicht auf den Markt hat. Zusätzlich kann das Risiko deutlich besser gesteuert werden, da die Risiken jeder Einzeltransaktion bekannt sind. So muss im Nachgang keine vollständige Prüfung mehr stattfinden.

Ich glaube, das ist der große Unterschied: Viel stärkere transaktionsbasierte Risikoorientierung und durch die Effizienz auch geringere Korridore für Risiken. Aktuell haben wir Abwicklungsrisiken, die wir dadurch reduzieren können. Hierin sehe ich den disruptiven Faktor. Man hat einzelne Datenquellen, die für alle einsehbar sind. Diese einfache Wahrheit der Technologie, die schnell gesagt ist, aber im Detail im Geschäft nicht immer leicht verstanden wird, stellt ein hohes Potenzial dar. Denn diese Technologie wickelt nicht nur Geschäfte effizient ab, sondern eliminiert auch enorme Risiken.

WO SEHEN SIE DIE HÜRDEN IN RICHTUNG INTEROPERABILITÄT?

SIMON SEITER / Die Interoperabilität funktioniert zurzeit sehr gut, weil wir einen großen Fokus auf eine hohe Konnektivität in andere Märkte legen. Dabei ist die Konnektivität in Märkte und Währungen ein großer Faktor. Wir bei der Deutschen Börse haben über 100 Währungen, die wir handeln. Da Währungsräume eröffnet werden, die es so nicht überall gibt, ist das natürlich eine Konnektivität in Anführungszeichen. Das zeigt auch, dass es nicht nur eine technische Konnektivität ist, sondern eher eine Anwendung von Marktteilnehmern. Ich bin mir relativ sicher, dass diese erhalten bleibt.

Eine weitere Frage ist die der technischen und der juristischen Konnektivität. Technisch gesehen, von der DLT-Welt aus, existieren Kryptowährungen virtuell und nicht in einem bestimmten Land. Juristisch dagegen ist die Sicht anders, denn es gibt immer eine Person, die in einem Land und somit innerhalb der Rechtsprechung dieses Landes agiert. Allein die Verbindung juristischer Rollen ist enorm aufwendig und ebenfalls eine Markkonnektivität, die es zu beachten gilt. Diese haben wir nicht bei allen Teilnehmern und sie ist auch nicht leicht aufzubauen. Im Sinne von Märkten und Marktteilnehmern sehe ich aber juristische Konnektivität und Geschäftskonnektivität als großen Punkt. Und bei der technischen Konnektivität wird es auch Hürden geben, da muss man jedoch abwarten, wie sie sich entwickelt.

SEHEN SIE NEBEN DER KONNEKTIVITÄT NOCH WEITERE HÜRDEN, DIE DEN ERFOLG DER TECHNOLOGIE HEMMEN?

SIMON SEITER / Die größte Hürde ist tatsächlich die notwendige Konnektivität. Eine weitere Erschwernis ist die Zusammenarbeit mit bestehenden Kanälen und der vorhandenen Infrastruktur. Ein Irrglaube aus der DLT-Szene ist, dass man mit der Technologie alles neu bauen könne. Stelle ich mir nun einen nicht-DLT-affinen Privatkunden als Anleger vor, würde dieser eine separate App herunterladen, nur um Bitcoin zu handeln? Ich glaube nicht. Wenn der Anleger handelt, dann hat er seine Hausbank, zu der er geht, über welche er kauft und verkauft. Die App ist in diesem Fall sein Kanal zur Bank. Bekomme ich den Bitcoin nicht in die App der Hausbank, dann wird er keinen Bitcoin kaufen. Bekomme ich keine digitalen Wertpapiere in die App, wird er auch diese nicht kaufen. Und dann wären alle Übungen, welche aktuell gemacht werden, komplett nutzlos. Aus diesem Grund ist viel daran gelegen, dass wir bestehende Infrastrukturen auch nutzen und diese für unsere Kunden, die Banken, zugänglich machen.

WIE KÖNNTE MAN DIESE HÜRDEN ABBAUEN?

SIMON SEITER / Aus meiner Sicht sind eine kontinuierliche Entwicklung am Markt, testen und verproben sowie ein realistischer Blick darauf, wie wir Sachen neu bauen können, sehr wichtig.

GIBT ES IHRER MEINUNG NACH ANWENDUNGSBEREICHE, IN DENEN DAS DISRUPTIONSPOTENZIAL AUCH IN DER MARKTMEINUNG ÜBERSCHÄTZT WIRD?

SIMON SEITER / Ja. Insbesondere dann, wenn man glaubt, man könne neue Investitionsobjekte schaffen, die am Ende eigentlich Wertpapiere sind. Im Bereich der Immobilien haben wir das mit verschiedenen Nichtverbriefungen beobachten können. Es gibt weitere Fantasien darüber, was man damit alles als Investitionsgut zugänglich machen könne. Am Ende muss man sich jedoch fragen, was man denn wirklich kauft. Wenn man zum Beispiel einen Token kauft und am Ende ein realer Wert dahintersteht, dann hat man letztendlich regulatorisch ein Wertpapier gekauft – auch wenn das Wort „Papier“ nicht enthalten ist. Zusätzlich muss es Möglichkeiten geben, digitale Wertpapiere zugänglich zu machen, und daran arbeiten wir mit Hochdruck. Aber man kann nicht einfach die gesamte Regulatorik verwerfen und annehmen, es sei kein Wertpapier und man könne daher irgendetwas handelbar machen.

DIE SCHWEIZ UND LIECHTENSTEIN HABEN BEREITS ERSTE BESCHLÜSSE AUF DEN WEG GEBRACHT. WAS IST IHRE EINSCHÄTZUNG, WIE LANGE ES DAUERN WIRD, BIS DER REGULATORISCHE RAHMEN SO WEIT GEGEBEN IST, DASS MAN DIE TECHNOLOGIE FÜR DEN MASSENMARKT SKALIEREN KANN?

SIMON SEITER / Wir beobachten langsam auch in unserem Heimatmarkt in Deutschland erste Bewegungen in die richtige Richtung. Daher wird die Immaterialisierung sowohl in den zentralen als auch in dezentralen Registern kommen. Auf europäischer Ebene gibt es ebenfalls viele Initiativen, bei denen wir uns sehr gerne und aktiv beteiligen. Man sieht, dass gesetzgeberische Rahmenbedingungen bereits geschaffen werden. Die Kryptoverwahrlizenz liegt uns als Beschluss schon vor. Es gibt mittlerweile viele Initiativen, die einen regulatorischen Rahmen ermöglichen. Es wird also nicht mehr lange dauern, bis wir Lösungen am Markt sehen werden.

SEHEN SIE ALS BÖRSE MÖGLICHKEITEN, IHRE WERTSCHÖPFUNGSKETTE ZU VERLÄNGERN?

SIMON SEITER / Meiner Einschätzung nach wird die Wertschöpfungskette einigermaßen konstant bleiben und wir werden eher eine breitere Vielfalt an Asset-Klassen auf derselben Wertschöpfungskette sehen. Das hängt auch davon ab, wie die Gruppe aufgebaut und welche Kundenstruktur vorhanden ist. Was ich jetzt schon sicher sagen kann ist, dass wir nicht in den Retail-Markt gehen werden. Man kann vielleicht über eine dezentrale Infrastruktur Services anbieten, die den Kunden helfen, ihre Produkte zu digitalisieren. Das kann aber trotzdem im Rahmen der bestehenden Wertschöpfungskette sein, nur in dem Sinne, dass man weitere Effizienzen schafft. Es ist nicht sinnvoll, wenn jeder Marktteilnehmer seine eigenen Lösungen baut. Alles Neue sollte untereinander für einen effizienten Übertrag kompatibel sein. Dafür muss ein sicherer und verlässlicher Standard etabliert werden.

WAS SOLLTE IHRER MEINUNG NACH DIE TREIBENDE KRAFT FÜR DIESEN STANDARD SEIN?

SIMON SEITER / Das sollte aus meiner Sicht eine verlässliche Regulatorik-Compliance-Lösung sein. Das ist wichtig, da es gerade im Bereich Custodian darauf ankommt, dass am Ende alles sicher verwahrt wird. Man kann sagen, man möchte die letzte Effizienz herausholen. Nur wenn wir von echten digitalen Assets reden, dann sind diese auf einer Public-Chain-Infrastruktur im Zweifel einfach weg. Man kann also experimentieren, um irgendwie marginale Effizienz herauszuholen. Wenn das Asset jedoch weg ist, dann habe ich 100 Prozent Verlust. Deshalb ist eine vertrauenswürdige, sichere Lösung mit Fallback-Option aus meiner Sicht das Kernelement. Ebenfalls, dass jemand für Krypto-Wertpapiere, als auch für elektronische Wertpapiere, bürgt, falls etwas schiefläuft.

WELCHE AUSWIRKUNGEN HAT ES AUF UNTERNEHMEN, WENN SIE SICH IN EINEM ÖKOSYSTEM BEWEGEN UND NICHT MEHR NUR FÜR SICH ALLEIN UNTERWEGS SIND?

SIMON SEITER / Es führt dazu, dass man kooperativer vorgehen muss. Man kann eben nicht alles besitzen, sondern muss auch den Besitz an Infrastruktur teilen. Das wird kommen, keine Frage, da werden wir uns auch nicht gegenstemmen.

WIE NEHMEN SIE DAS BEI DEN MARKTTEILNEHMER WAHR, WIRD DAS MIT OFFENEN ARMEN ENTGEGENGENOMMEN ODER ZEIGT SICH AUCH VERÄNDERUNGSRESISTENZ?

SIMON SEITER / Das ist je nach Institut unterschiedlich. Insgesamt ist am Markt eine Offenheit zu spüren, stark in Kooperation zu gehen, weil man versteht, dass man individuell davon profitiert. Es ist auch ein soziales oder gesellschaftliches Thema, da ist meinem Gefühl nach grundsätzlich eine Offenheit vorhanden.

LASSEN SIE UNS ABSCHLIEßEND NOCH ZU EINEM PERSÖNLICHEN AUSBLICK KOMMEN: WELCHE LANGFRISTIGEN POTENZIALE KÖNNEN DURCH BLOCKCHAIN-TECHNOLOGIE ENTSTEHEN? ÜBER DEN WERTPAPIERHANDEL HINAUS, WO STEHEN WIR 2030?

SIMON SEITER / Wir werden eine viel stärkere vertikale Integration in Geschäftsmodellen haben, auch im Finance-Bereich. Es wird eine höhere Autonomie in Produktionsprozessen oder auch Dienstleistungsprozessen geben, weil gewisse andere, notwendige Dienstleistungen inkludiert werden können. Dadurch haben Lösungen eine höhere Autonomität, wodurch ein geringerer organisatorischer Rahmen benötigt wird. Von der Technologie erhoffe ich mir, dass durch die ermöglichte Transparenz und Autonomie von Einzelpersonen oder von Einzelmaschinen, Services stärker integriert und dadurch schneller ausgeführt werden. Dieses Beispiel zeigt auch wieder die Parallelen zum Finanzmarkt, in dem diese Risikothemen ebenfalls mit hineinspielen. Diese Finalität der Transaktion im Geschäft ist ähnlich. Das Risiko, dass in der Abrechnung etwas schiefläuft oder nicht bezahlt wird, existiert dann nicht mehr. Strukturelle Krisen und Betrug werden vermieden, weil genau diese Spielräume kleiner gemacht werden. Andersherum besteht jedoch auch die Gefahr, dass Intransparenz darüber herrscht, welches reale Asset konkret dahintersteht, wenn alles immer in Tokens verpackt wird. Und das kann, auch wenn es technologisch transparent ist, geschäftspolitisch zu einer Intransparenz führen, wenn zum Beispiel Anleger nicht wissen, was sie kaufen. Und aus diesem Grund ist es aus meiner Sicht nicht sinnvoll, dass wir anfangen, die Regulatorik, die wir in den letzten zehn Jahren nach der Finanzkrise aufgebaut haben, nur für kleine technologische Effizienzen aufzuweichen.

VIELEN DANK FÜR DAS INTERVIEW, HERR SEITER!

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