Interview mit Soeren Hartung, Landesbank Hessen-Thüringen Girozentrale

"Blockchain wird Cross-Industry-Geschäftsmodelle ermöglichen"

Soeren Hartung arbeitet bei der Landesbank Hessen-Thüringen Girozentrale, kurz Helaba, im Bereich Digitalisierung und ist dort vor allem für den Einsatz neuartiger Technologien wie der Blockchain zuständig. Bereits während seiner Zeit als Inhouse Consultant bei der Commerzbank begleitete er mehrere Initiativen im Blockchain-Umfeld.

Im Interview mit Horváth skizziert Soeren Hartung, wie stark der zukünftige Erfolg der Blockchain-Technologie vom Netzwerkeffekt abhängt und wie sehr diese die Bankenbranche verändern wird.

HERR HARTUNG, WIE SIND SIE ZUM THEMA BLOCKCHAIN GEKOMMEN UND INWIEFERN BEGLEITET ES SIE HEUTE?

HARTUNG / Das erste Mal habe ich mich 2016 mit der Blockchain-Technologie beschäftigt. Ab 2017 war ich für 16 Monate im Blockchain-Lab der Commerzbank tätig, bevor ich in das Strategieprojekt Digitalisierung der Helaba wechselte. Hier verfolgen wir das Ziel, Digitalisierungsinitiativen in der Helaba anzustoßen und voranzutreiben. Wir verstehen uns dabei weniger als reine Forschungs- und Entwicklungseinheit, sondern haben vielmehr den Anspruch, Initiativen auch bis zu deren Implementierung zu führen. Wir begleiten dabei den gesamten Prozess: Von der Idee über einen Proof of Concept (PoC) und einem Minimum Viable Product (MVP) bis zur Überführung in die Linie.

Derzeit sind wir in zwei Blockchain-Initiativen involviert: Marco Polo und finledger. Marco Polo bezieht sich auf das Trade- und Supply-Chain-Finance-Umfeld, in dem wir u.a. mit mehreren Landesbanken zusammenarbeiten. Bei finledger geht es um die Abwicklung von Schuldscheinen. Hier arbeiten wir in einem Konsortium mit vier weiteren Finanzinstituten an der Etablierung eines neuen Marktstandards. Neben diesen zwei Initiativen analysieren wir kontinuierlich den Markt und tauschen uns regelmäßig mit relevanten Start-ups sowie Technologiepartnern aus.

NACH WELCHEN KRITERIEN HABEN SIE SICH FÜR DEN USE CASE MARCO POLO ENTSCHIEDEN – ANSTATT BEISPIELSWEISE FÜR ANDERE TRADE- UND SUPPLY-CHAIN-FINANCE-INITIATIVEN?

HARTUNG / Wir haben vor allem drei Kriterien betrachtet. Ein wichtiger Faktor war das Konsortium. Ich bin davon überzeugt, dass am Ende die Initiative erfolgreich sein wird, die zügig ein hinreichend großes Netzwerk aufbauen kann. Zum Zeitpunkt unserer Entscheidung war das Marco Polo. Der zweite Faktor, der für Marco Polo gesprochen hat, war der Produktfokus. Marco Polo bietet nicht nur Trade-Finance-Lösungen, sondern auch Supply-Chain-Finance-Produkte an, ein Geschäftsfeld, in dem die Helaba sehr aktiv ist. Ein drittes Kriterium war die globale Ausrichtung von Marco Polo. So arbeiten weltweit Unternehmen an der Weiterentwicklung und Etablierung des Marco-Polo-Netzwerks.

DIENEN DIE GENANNTEN PROJEKTE EHER DEM EXPERIMENTELLEN AUSPROBIEREN ODER GIBT ES BEREITS KONKRETE ABSICHTEN, ETWA MIT MARCO POLO DEN HELABA TRADE-FINANCE-PROZESS MITTEL- BIS LANGFRISTIG KOMPLETT ABZULÖSEN?

HARTUNG / Im Gegensatz zu anderen Banken, welche zur Evaluierung von Blockchain-Technologien bewusst experimentierfreudige Forschungs- und Entwicklungseinheiten unterhalten, denken wir stärker in konkreten Business Cases. Wir unterliegen beispielsweise, wie jedes andere Projekt in der Helaba auch, dem formalen Projektbudgetierungsprozess, in dem der Business Case eine wesentliche Rolle spielt. Wir müssen intern bei allen Blockchain-Initiativen den strategischen Mehrwert klar darlegen und hierbei konkrete Wachstums- oder Effizienzpotenziale, die kurz- oder mittelfristig realisierbar sind, benennen.

WIE STEHEN SIE GENERELL ZUM THEMA BLOCKCHAIN? IST BLOCKCHAIN DIE NEUE TECHNOLOGIE ODER IST SIE EHER NOCH IN DER FINDUNG?

HARTUNG / Ich bin der Meinung, dass Blockchain eine spannende Technologie ist und den Finanzbereich maßgeblich beeinflussen wird. Jedoch gehe ich nicht davon aus, dass Blockchain eines unserer Geschäftsfelder kurzfristig vollständig verändern wird. Beispielsweise bin ich persönlich davon überzeugt, dass Schuldverschreibungen in den nächsten Jahren weiterhin mit einer Bank emittiert werden, obwohl dies technisch und prozessual auch ohne funktioniert. Unternehmen schätzen die Expertise von Banken, etwa hinsichtlich des Zeitpunkts des Markteintritts oder der Investorenansprache. Deswegen sehe ich Blockchain aktuell eher als Möglichkeit, unsere Abläufe effizienter zu gestalten – und weniger als Angriff auf unser Geschäftsmodell. 

VIELE BLOCKCHAIN-PROJEKTE SCHAFFEN ES NICHT VON DER KONZEPTPHASE IN DIE PRODUKTION – WORAN LIEGT DAS?

HARTUNG / Es gibt mehrere Faktoren. Der Hauptgrund ist aus meiner Sicht jedoch, dass Blockchain eine Netzwerktechnologie ist und man immer ein entsprechendes Netzwerk braucht. Dieses Netzwerk aufzubauen und dafür zu sorgen, dass sich die Teilnehmer auf einen (Markt-)Standard einigen, ist komplex und zeitintensiv. Das zeigt sich auch bei Swift und weiteren aktuellen Netzwerken im Finanzwesen. Neue Blockchain-Initiativen müssen ein solches Netzwerk erst einmal aufbauen. Es gibt bereits konkrete Visionen, etwa im Trade-Finance-Bereich, wie solche Netzwerke aussehen könnten, aber es müssen noch viele Grundsatzfragen hinsichtlich (Markt-)Standards geklärt werden. Hierbei geht es nicht nur um den deutschen oder europäischen, sondern um den weltweiten Markt. Hierfür ist es erforderlich, neben Banken auch Versicherer, Logistiker, Zollbehörden sowie Importeure und Exporteure mit einzubeziehen. 

WANN GLAUBEN SIE, WERDEN WIR IM ALLTÄGLICHEN LEBEN, EGAL OB FIRMEN-, PRIVATKUNDEN- ODER INVESTMENTGESCHÄFT, ALLTÄGLICHE TRANSAKTIONEN AUF DER BLOCKCHAIN TÄTIGEN?

HARTUNG / Das hängt vom entsprechenden Use Case ab und lässt sich nicht pauschal beantworten. Blockchainbasierte Zahlungen, wie z.B. die aktuell diskutierte Initiative Libra, könnten womöglich kurz- bzw. mittelfristig im Alltag genutzt werden. Damit ließen sich mitunter Zahlungsvorgänge im Internet oder auch Auslandsüberweisungen günstiger und schneller abwickeln. Darüber hinaus könnte die Emission sowie die Abwicklung von Wertpapieren Anwendungsfälle darstellen, die zeitnah in Deutschland produktiv genutzt werden könnten. Im Trade-Finance-Umfeld hingegen wird es mit Sicherheit noch etwas Zeit brauchen, bis Kunden eine ganzheitliche Lösung im Alltag nutzen können. Wie disruptiv jedoch all diese Anwendungsfälle dann wirklich sind, wird sich allerdings noch zeigen. Ich gehe fest davon aus, dass Blockchain entsprechendes Potenzial für eine Disruption in vielen Geschäftsfeldern hat. Es wird aber bestimmt noch fünf bis acht Jahre dauern, bis wir diese Disruption im Alltag sehen werden.

LÖST BLOCKCHAIN DIE BANKEN AB?

HARTUNG / Das ist für bestimmte Dienstleistungen, die Banken heute anbieten, nicht auszuschließen. Im Trade-Finance-Umfeld dagegen halte ich es für unwahrscheinlich, dass Banken ersetzt werden. Banken leisten hier weiterhin einen großen Mehrwert in der Wertschöpfungskette, in dem sie Risiken absichern und Finanzierungslösungen bereitstellen.

Die Finanzbranche ist grundsätzlich eine der Branchen, die am stärksten die Auswirkungen der Blockchain-Technologie spüren wird. Neben etwaigen Risiken für einzelne Geschäftsfelder bietet die Technologie aber auch enorme Chancen. Das haben eine Vielzahl der Banken früh erkannt und sich meiner Meinung nach zukunftsfähig aufgestellt. Aber auch andere Branchen werden sich durch die Blockchain-Technologie verändern. In der Logistik beispielsweise kann mittels Blockchain die Herkunft von Waren eindeutig nachgewiesen werden. Auch Versicherer haben sich schon länger zusammengeschlossen, um gemeinsam an Blockchain-Initiativen zu arbeiten. Dies trifft auch auf viele weitere Branchen zu. Insbesondere werden durch Blockchain neue Cross-Industry-Geschäftsmodelle ermöglicht. Beispielsweise lassen sich beim autonomen Fahren Tankvorgänge mittels Blockchain abwickeln, um auch hier die manuelle Interaktion überflüssig zu machen. Hierfür müsste jedes Objekt, z.B. ein Auto, eine eigene digitale „Identität“ erhalten, um eine eindeutige Zuordnung des Vorgangs zu ermöglichen. Das rechtlich abzubilden ist allerdings komplex. Daher stehen wir im intensiven Austausch mit Fachanwälten, um unter anderem die rechtlichen Implikationen von Smart Contracts zu evaluieren. Hier gibt es jedoch noch einige Hürden, die aus dem Weg zu räumen sind. Was passiert etwa im Schadensfall und wer haftet für diesen? Die Antworten auf diese Fragen sind dabei alles andere als trivial.

GIBT ES NEBEN DEN NÖTIGEN INVESTMENTS NOCH WEITERE HÜRDEN, DIE DEN FORTSCHRITT BREMSEN ODER AUCH VERLANGSAMEN?

HARTUNG / Die Blockchain-Technologie braucht aus meiner Sicht relativ zeitnah ein Leuchtturmprojekt, das es schafft, auch Zweifler oder nicht-technologieaffine Menschen zu überzeugen und zu begeistern. Viele haben vorausgesagt, dass Blockchain disruptive Geschäftsmodelle ermöglichen wird – das muss sich in der Realität nun bald zeigen.

KÖNNEN SIE EINE EINSCHÄTZUNG GEBEN, WO DIE REGULATORIK JETZT STEHT UND WIE WEIT SIE NOCH GEHEN MUSS, UM VIELLEICHT SO EIN LEUCHTTURMPROJEKT ZU ERMÖGLICHEN? IST DAS ÜBERHAUPT EINE GROßE HÜRDE?

HARTUNG / Das ist ebenfalls sehr Use-Case-spezifisch. Im Kapitalmarktbereich ist die Regulatorik in den letzten Monaten bereits besser an die neuen technischen Möglichkeiten angepasst worden und ich begrüße die eingeleiteten Änderungen durch die Aufsichtsbehörden. Es wurden aus meiner Sicht Punkte, die heute noch gegen die weitere Digitalisierung des Kapitalmarkts sprechen, richtig erkannt. Bei den meisten Initiativen im Trade-Finance-Bereich sehe ich derzeit wenige regulatorische Themen, die eine unüberwindbare Hürde darstellen werden. Natürlich gibt es auch hier noch offene regulatorische Fragen, aber diese lassen sich aus meiner Sicht lösen. Ein weiteres großes Thema für die Aufsicht ist aktuell der Umgang mit Kryptowerten und so genannten Tokens. Aber auch hier nehme ich den Regulator eher als Sparringspartner wahr und nicht als jemanden, der sich verweigert.

GIBT ES NOCH WEITERE HÜRDEN, DIE DAZU FÜHREN, DASS BLOCKCHAIN NOCH NICHT SO ERFOLGREICH IST, WIE MANCHE SICH DAS WÜNSCHEN?

HARTUNG / Wie bereits angesprochen, ist das Schaffen des Netzwerks und der (Markt-)Standards eine nicht zu unterschätzende Hürde, ebenso wie die Bereitschaft der beteiligten Akteure, in einem Netzwerk zusammenzuarbeiten. Das braucht Zeit. Das Schöne an der Blockchain-Technologie ist, dass man jetzt auch innerhalb der Branche kooperiert, während das zum Beispiel im Bankwesen oder auch bei Versicherungen in der Vergangenheit nicht immer der Fall war. Natürlich bringt das aber auch vielfältige Herausforderungen mit sich. Wenn z. B. 25 Banken zusammenarbeiten, müssen auch bis zu 25 verschiedene Standpunkte und Strategien zusammengebracht werden. Es ist also nicht immer so dynamisch, wie man es sich wünschen würde. Eine oft diskutierte Frage in diesem Kontext ist, welche Services und Dienstleistungen man in einem blockchainbasierten Netzwerk ohne Intermediäre zukünftig monetarisieren kann und welche nicht. Die Akzeptanz und somit der Ausbau neuer Netzwerke ist hiervon maßgeblich abhängig. Meiner Meinung nach haben Unternehmen noch keine ausreichende Antwort hierauf gefunden.

WIE SEHEN SIE DIE KURZ-, MITTEL- BIS LANGFRISTIGE ENTWICKLUNG DER TECHNOLOGIE?

HARTUNG / Die nächsten zwei Jahre werden wir wahrscheinlich noch überwiegend Test- und Pilottransaktionen sehen. Es wird sicherlich auf Konferenzen auch weiterhin über das große Potenzial gesprochen, aber das wird auch mit einer Phase der Ernüchterung gepaart sein. In zwei bis vier Jahren werden wir wohl die ersten Blockchain-Anwendungen sehen, die erfolgreich im alltäglichen Betrieb genutzt werden. Der Fokus wird aber wohl zunächst auf der Optimierung bestehender Prozesse und Strukturen liegen. Langfristig bin ich überzeugt, dass wir durch die Blockchain-Technologie komplett neue Geschäftsmodelle mit vielen neuen Akteuren sehen werden.

VIELEN DANK FÜR DAS INTERVIEW, HERR HARTUNG!

Einen Überblick unserer Interviews sowie weitere Informationen zu unserer Sicht auf Blockchain in der Finanzindustrie finden Sie hier.

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