

Im vergangenen Jahr hat thyssenkrupp ein neues Geschäftssegment etabliert – Decarbon Technologies. Darin bündelt der weltweit aktive Industriekonzern seine Geschäfte zur grünen Transformation und Energiewende – mit Erfolg. Im vergangenen Geschäftsjahr konnte die Sparte ihren Umsatz trotz schwierigem Marktumfeld direkt um zwölf Prozent steigern. Das Portfolio umfasst innovative Technologien, Produkte und Dienstleistungen mit Fokus auf Wasserstoff, Zement, Ammoniak und erneuerbare Energien. In allen Geschäftseinheiten laufen spezifische Transformationsprogramme, die auf die besonderen Herausforderungen ihrer Märkte zugeschnitten sind. Carolin Nadilo, Chief Finance Officer bei thyssenkrupp Decarbon Technologies, spricht im Interview über Herausforderungen eines wirtschaftspolitisch geprägten, enorm dynamischen Marktes, wichtige Transformationsbausteine abseits von Kostenoptimierung, die konkrete strategische Ausrichtung des Unternehmens und die entscheidenden Erfolgsfaktoren für eine nachhaltige Transformation in einem unsicheren wirtschaftlichen Umfeld.
Können Sie kurz erläutern, welche Geschäfte das Segment Decarbon Technologies überhaupt umfasst?
NADILO Decarbon Technologies ist die Muttergesellschaft von vier eigeständigen Geschäftseinheiten, die mit ihren Produkten unseren Kunden auf der ganzen Welt dabei helfen, ihre Klimaziele zu erreichen. Wir sind einer der führenden Hersteller von Großwälzlagern, also Hochleistungskomponenten, die unter anderem in Windturbinen, Solaranlagen oder auch in Gezeitenkraftwerken zum Einsatz kommen. Dann haben wir zwei auf Engineering spezialisierte Anlagenbaugeschäfte. Eines ist spezialisiert auf chemische Technologien wie zum Beispiel die Ammoniakproduktion, das andere auf die Zementherstellung inklusive neuer Verfahren zur CO2-Abscheidung. Und zu guter Letzt halten wir eine Mehrheitsbeteiligung an thyssenkrupp nucera, einem der führenden Anbieter von Elektrolysetechnologie, die für die Herstellung von grünem Wasserstoff gebraucht wird.
Nicht zuletzt durch den Machtwechsel in den USA hat man den Eindruck, dass die Themen Dekarbonisierung und Klimaschutz wieder in den Hintergrund treten. Macht Ihnen das Sorge?
NADILO Kurzfristig führt die politische Unsicherheit zu einer veränderten Dynamik bei Investitionsentscheidungen. Während sich einzelne Programme und Förderungen verlangsamen oder verschieben, bleibt die langfristige Dekarbonisierung der Industrie eine absolute Notwendigkeit – nicht nur wirtschaftlich. Unternehmen werden unabhängig von politischen Zyklen gezwungen sein, sich auf steigende CO2-Preise, veränderte Regulierungsvorgaben und sich wandelnde Marktbedingungen einzustellen. Dennoch darf man kritisch hinterfragen, inwieweit der oft prognostizierte exponentielle Marktwachstumspfad für grüne Technologien realistisch ist, oder, ob strukturelle Hindernisse – wie hohe Investitionskosten, unzureichende Infrastruktur oder Fachkräftemangel – das Tempo drosseln. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, setzen wir auf eine geographische Diversifikation unserer Geschäftsaktivitäten und eine möglichst modulare und standardisierte Angebotsstrategie. Durch die Erschließung neuer Märkte reduzieren wir unsere Abhängigkeit von einzelnen politischen Entscheidungen. Dabei arbeiten wir eng mit unseren Kunden zusammen, um individuelle Finanzierungslösungen zu entwickeln, die den Einstieg in die Dekarbonisierung erleichtern. Dies bildet die Basis für nachhaltig profitables Wachstum bei Decarbon Technologies.
Wie bereiten Sie das Unternehmen auf Wachstum vor und wie gehen Sie mit den Unsicherheiten am Markt um?
NADILO Unser Ziel ist ein ausgewogener strategischer Ansatz, der Risiken aus dem klassische Anlagenbau reduziert und so den Weg für nachhaltig profitables Wachstum ebnet. Unsere vier Geschäftseinheiten – Rothe Erde, Uhde, Polysius und die börsennotierte thyssenkrupp Nucera – haben jeweils spezifische Transformationsprogramme, die auf die besonderen Herausforderungen ihrer Märkte zugeschnitten sind. Entscheidend ist dabei nicht nur die Entwicklung neuer Technologien, sondern insbesondere deren wirtschaftliche Skalierbarkeit und langfristige Rentabilität. Gerade in kapitalintensiven Industrien erfordert die Transformation eine präzise Steuerung von Investitionen, Kosten und Risiken. Wir setzen verstärkt auf die Modularisierung und Standardisierung unserer Anlagen, um Kosten zu senken und die Umsetzungsgeschwindigkeit zu erhöhen. Gleichzeitig optimieren wir unsere internen Prozesse und stärken unser Service- und Ersatzteilgeschäft, um zusätzliche stabile Ertragsquellen zu schaffen.
Kostenoptimierung ist nur ein Baustein. Daneben bearbeiten wir drei strukturelle Themen, die langfristig wirken: Widerstandskraft und Werthaltigkeit unserer Geschäftsmodelle, Ausbau unseres Serviceangebots und die Stärkung unserer Umsetzungsqualität.
Was sind die Schwerpunkte Ihres Verbesserungsprogramms? Um was geht es dabei neben Kostenoptimierung noch?
NADILO Kostenoptimierung ist in der Tat nur ein Baustein. Uns geht es in der jetzigen Phase in erster Linie um strukturelle Themen, die langfristig wirken. Dabei haben wir drei Schwerpunkte festgelegt: Zum einen wollen wir unsere Geschäftsmodelle widerstandsfähiger und werthaltiger machen. Zweitens bauen wir unser Serviceangebot aus. Und drittens stärken wir unsere Umsetzungsqualität, durch eine Vielzahl von operativen Verbesserungsmaßnahmen.
Um es konkreter zu machen: Im Anlagenbau wollen wir weg von lokalen Bauleistungen und hin zu mehr profitableren Ingenieur- und Beschaffungsleistungen. Als Serienlieferant von Komponenten bauen wir das lukrative Ersatzteil- und Servicegeschäft weiter aus und im Bereich der operativen Exzellenz treiben wir die Standardisierung und Modularisierung unserer Produkte und Services voran. Das sind alles tiefgreifende Veränderungen in zum Teil sehr etablierten Geschäftsmodellen. Um diese Veränderungen umzusetzen, braucht es Überzeugungskraft und Fingerspitzengefühl, um die Menschen mitzunehmen. Letztlich sind es unsere globalen Teams, die die Transformation möglich machen.
Um die Veränderungen umzusetzen, braucht es Überzeugungskraft und Fingerspitzengefühl, um die Menschen mitzunehmen.
Was sind Ihrer Erfahrung nach die größten „Stolpersteine“ bei der Umsetzung von Transformationsprogrammen?
NADILO Bei der Größenordnung und Komplexität der Veränderung, die wir in unserem Segment angestoßen haben, ist es besonders wichtig, innerhalb der Organisation fortlaufend aktiv zu kommunizieren. Veränderungsprozesse bergen für viele Kolleginnen und Kollegen Unsicherheiten. Dann hilft es, ein klares Zielbild zu haben, an dem wir uns alle ausrichten können. Und beim Zielbild haben wir es leicht: Das Zielbild der grünen Transformation ist klar, eingängig und positiv. Das hilft ungemein, Veränderungen aktiv umzusetzen, auch wenn es manchmal schmerzhaft ist. Denn zu unserer Transformation gehören auch Restrukturierungen, Verlagerungen von Standorten oder mögliche Schließungen. Klare Ziele, keine Kompromisse bei der Umsetzung notweniger Maßnahmen und ganz viel Kommunikation, das ist meiner Erfahrung nach die Rezeptur für eine gelingende Transformation.
Bleiben wir einen Moment beim Thema Kommunikation. Wie stellen Sie sicher, die Führungskräfte und Mitarbeitenden zu überzeugen und „mitzunehmen“?
NADILO Ein strukturiertes Change-Management ist essenziell. Wir setzen auf klare Zielbilder, transparente Kommunikation und eine konsequente Einbindung aller Stakeholder. Dabei nutzen wir moderne digitale Kanäle sowie regelmäßige Dialogformate, um eine enge Abstimmung mit den Teams zu gewährleisten. Die Akzeptanz für Veränderungen ist jedoch kein Selbstläufer – insbesondere, wenn Maßnahmen auch unbequeme Entscheidungen beinhalten. Hier setzen wir auf eine faktenbasierte Argumentation, konsequente Umsetzung und ein klares Erwartungsmanagement. Daneben haben wir natürlich auch persönliche Austausch- und Diskussionsangebote – sowohl physische als auch digitale. Ich bin überzeugt: Kein Newsletter und kein Post kann ein gutes Gespräch und die direkte Interaktion ersetzen. Zudem muss man Erfolge feiern, auch kleine. Denn sie zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Gab es zuletzt für Sie und Decarbon Technologies Erfolge zur feiern?
NADILO Durchaus. Wir haben den Umsatz in einem insgesamt schwierigen Marktumfeld im vergangenen Geschäftsjahr um zwölf Prozent gesteigert. Vor allem im Nahen Osten, Afrika, China und Nordamerika konnten wir zulegen. Aber auch in Deutschland und Europa haben wir wichtige Kundenaufträge gewonnen. So liefern wir zum Beispiel die zentrale Technologie für eines der ersten CO2-neutralen Zementwerke weltweit im norddeutschen Lägerdorf. Zudem haben wir bei einem weiteren Großkunden in der Zementindustrie, der griechischen Titan Gruppe, einen Engineering-Auftrag für eines der größten Projekte zur Kohlenstoffabscheidung in Europa gewinnen können. Und unsere Wasserstofftochter thyssenkrupp nucera hat mit einem Energieunternehmen in Spanien eine Reservierungsvereinbarung von Produktionskapazitäten für einen Elektrolyseur mit einer Kapazität von 300 Megawatt abgeschlossen. Das alles sind ganz wichtige Meilensteine für uns, die unsere Geschäfte nach vorne hin absichern.
Wagen wir zum Abschluss einen Blick in die Zukunft: Auf welche Marktentwicklungen stellen Sie sich in den kommenden fünf Jahren ein?
NADILO Der Fokus von thyssenkrupp Decarbon Technologies liegt auf der Entwicklung und Bereitstellung von Dekarbonisierungs- und Klimaschutzlösungen für zentrale Industrien wie die Energie- und Chemiebranche, die Landwirtschaft und die Zementindustrie. Diese Industrien stehen unter erheblichem Transformationsdruck. Während das Wachstumspotenzial für grüne Technologien unbestreitbar ist, zeigt sich in der Realität eine deutlich differenziertere Entwicklung. Einerseits gibt es ambitionierte politische Ziele und eine zunehmende Zahl regulatorischer Vorgaben. Andererseits erfolgen Investitionsentscheidungen aufgrund wirtschaftlicher Unsicherheiten, geopolitischer Spannungen und hoher Kapitalkosten oft zögerlich. Das führt zu Unsicherheiten bei unseren Kunden und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu einer Verzögerung der politisch vorgegebenen Ziele. Wir begegnen dieser Unsicherheit mit einer klaren Positionierung unserer Technologien, die bereits heute wirtschaftlich tragfähig sind. Gleichzeitig investieren wir gezielt in Partnerschaften mit Industrieunternehmen und sprechen mit politischen Entscheidungsträgern, um regulatorische Rahmenbedingungen mitzugestalten und die Skalierung unserer Lösungen zu beschleunigen. Unser Fokus liegt auf Technologien, die möglichst schnell implementierbar sind und nachweislich CO₂-Einsparungen ermöglichen.
Über Carolin Nadilo
Carolin Nadilo startete ihre berufliche Karriere bei der Großbank HSBC. Die studierte Betriebswirtin verfügt über mehr als 15 Jahre Kapitalmarkt- und Transformationserfahrung in unterschiedlichen Unternehmen. Beim Finanzdienstleister sino AG war sie in Managementposition im Bereich Corporate Development tätig und am Investment an der Trade Republic Bank beteiligt. Anschließend verantwortete sie bei der Gerresheimer AG die Bereiche Finance & Controlling des Plastikgeschäfts sowie zuvor den Bereich Investor Relations. Seit April 2024 ist Carolin Nadilo Chief Financial Officer bei thyssenkrupp Decarbon Technologies.
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