

Werksschließungen, Standortverlagerungen, Kursverluste – die deutsche Zuliefererbranche leidet und beherrscht die Schlagzeilen der Wirtschaftsnachrichten. Auch der große deutsche Automobilzulieferer Continental bleibt von der kriselnden Wirtschaft nicht verschont. Dr. Ariane Reinhart, Personalchefin und Mitglied des Vorstands der Continental AG, erklärt im Interview, wie das Unternehmen den aktuellen Herausforderungen begegnet, welche Vorteile Deutschland als Standort dennoch bietet und was der Automobilzulieferer unternimmt, um trotz Krise möglichst viel Mitarbeiterpotenzial zu bewahren und zu fördern. Sie erklärt außerdem, wieso Transformation Teamarbeit ist und wie man der „Transformationsmüdigkeit“ von Mitarbeitenden mit Fingerspitzengefühl begegnen kann.
Die deutsche Wirtschaft kriselt. Was sind die größten Herausforderungen und wie kann man ihnen begegnen?
REINHART Der Fachkräftemangel verschärft sich und gleichzeitig steigen die Arbeitslosenzahlen. Die Wirtschaft schrumpft und wegen der im internationalen schlechten Standortbedingungen verlagern immer mehr Unternehmen ihre Aktivitäten ins Ausland. Der deutsche Arbeitsmarkt ist in einer strukturellen Krise und unser Sozialstaat ist in Gefahr.
Dabei haben wir in Deutschland hervorragend ausgebildete Fachkräfte. Um unser Ausbildungssystem beneidet man Deutschland in der ganzen Welt. Es bringt Jahr für Jahr Zehntausende ausgezeichnet ausgebildete Fachkräfte für Industrie, Handel, Gesundheit und Dienstleistung hervor. Unsere Ressourcen sind die Menschen. Nun geht es darum zu schauen, wie wir unsere guten Fachkräfte, die Produktivität und Qualität, die Innovationen nutzen können, um unseren Sozialstaat und unseren Wohlstand zu sichern.
Dafür müssen wir jetzt aktiv werden. Und zwar alle Akteure gemeinsam. Es hilft nicht, das Problem tot zu schweigen. Erforderlich ist nicht nur ein abgestimmtes gemeinsames Vorgehen. Notwendig sind zudem wirksame Instrumente zur Verbesserung der Beschäftigungslage, die entwickelt beziehungsweise vorangetrieben werden müssen.
Welche Instrumente könnten das sein?
REINHART Ein erfolgversprechender Ansatz für ein solches Instrument ist eine sogenannte Perspektivgesellschaft, die „Work in Motion“ GmbH, die wir derzeit aufbauen. Diese geht aus der Continental-Gesellschaft „ContiMotion“ hervor, die Continental gemeinsam mit der IG BCE gegründet hat. Konzeptionell vorgesehen ist die Beteiligung weiterer Stakeholder (Unternehmen, Gewerkschaften, zusätzlich Verbände und Institutionen und ggf. auch staatliche Institutionen).
Die Idee von „Work in Motion“: Beschäftigte, die aktuell im Arbeitsprozess nicht benötigt werden – etwa aufgrund von betrieblichen Überkapazitäten oder wegen nicht mehr passender Qualifikation –, werden übernommen, ggf. qualifiziert und dann an andere Unternehmen mit Personalbedarf zeitweise ausgeliehen oder weitervermittelt. So stehen dem Arbeitsmarkt auch in Zukunft ausreichend Beschäftigte zur Verfügung, die über die notwendigen Kompetenzen verfügen. Damit wird ein zielgerichteter Beitrag geleistet, um langfristig die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft abzusichern.
Welche Rolle spielen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Transformation? Wie muss sich die Struktur der Belegschaft hinsichtlich Flexibilität oder Kompetenzen ändern, um gut durch die aktuellen Herausforderungen zu kommen?
REINHART Der Schlüssel lautet „Qualifizierung“. Das heißt über eine zukunftsgerichtete Qualifizierung der Beschäftigten müssen wir Brücken in neue Beschäftigung bauen. Gerade hier kann Continental ihre nachgewiesene Erfahrung und Expertise einbringen. Wir haben 2019 unser eigenes Weiterbildungsinstitut (Continental Institut für Technologie und Transformation, CITT) gegründet. Seit der Gründung haben dort rund 11.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer neue Zukunftskompetenzen erworben.
Im Rahmen der Allianz der Chancen konnten seit ihrer Gründung im Jahr 2021 bereits rund 2.000 Beschäftigte in ein anderes Unternehmen vermittelt werden. Die Allianz der Chancen ist eine Verantwortungsgemeinschaft aus rund 75 Unternehmen und Institutionen, die neue Wege bei der Transformation geht und gemeinsam konkrete Lösungen erarbeitet. Das Zielbild: „Von Arbeit in Arbeit“, d.h. für die von der Transformation betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Mitgliedsunternehmen Beschäftigungsperspektiven zu schaffen.
Wie begleiten Sie die Veränderungen und Verunsicherungen Ihrer Belegschaft? Was funktioniert Ihrer Erfahrung nach gut, was funktioniert weniger gut?
REINHART Hier sind insbesondere die Führungskräfte gefragt. Sie müssen Orientierung geben und die Menschen emotional mitnehmen. Und das geht nur mit einer persönlichen und authentischen Kommunikation: warum sind die Veränderungen notwendig, wie wollen wir diese erreichen und welche Rolle spielt jeder und jede Einzelne im Transformationsprozess?
Dabei zählen wir auch auf die Unterstützung der Sozialpartner. Eine so umfassende Transformation kann nur gelingen, wenn Arbeitnehmervertretung und Arbeitgeber zusammenarbeiten. Wir arbeiten aktiv daran, den Beschäftigten Perspektiven aufzuzeigen. Denn Perspektive schafft Optimismus.
Unternehmen in stark wandelnden Industrien müssen sich kontinuierlich anpassen, was für Beschäftigte oft wie ein endloses Transformationsprogramm wirkt. Wie geht Continental mit dieser „Transformationsmüdigkeit“ um?
REINHART Ja, das ist tatsächlich eine große Herausforderung, mit der wir uns auch bei Continental konfrontiert sehen. Continental ist ein sehr diversifizierter Konzern, daher befinden sich verschiedene Geschäftsbereiche in unterschiedlichen Phasen der Transformation. Dies führt dazu, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Eindruck haben, die Transformation dauere schon sehr lange – auch wenn sie nicht persönlich betroffen waren. Diesen Prozess gilt es zu begründen und offen zu diskutieren.
Dort, wo Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Veränderungen betroffen sind, haben wir mittlerweile sogenannte „Zukunftszentren“ als erste Anlaufstelle gegründet. Dort bieten wir in erster Linie Gesprächsangebote – zusammen mit dem lokalen Betriebsrat. Ob persönliche Beratung bezüglich der Veränderungen und der eigenen Perspektive, mögliche Qualifizierungen, Lebenslauf-Checks oder Bewerbungsberatung – mit den Zukunftszentren möchten wir unseren Beschäftigten Sicherheit und Optimismus für ihre Zukunft geben.
Was war für Sie persönlich eine ganz wichtige Erfahrung bei der Umsetzung eines Transformationsprogramms?
REINHART Die Transformation ist gewaltig und betrifft alle Industrien. Deswegen können wir die Herausforderungen auch nur gemeinsam angehen. Es geht darum, den Wirtschaftsstandort Deutschland und den Wohlstand zu sichern. Das schafft man nicht als Einzelkämpfer. Es geht nur mit „Joining Forces“. Diesen Ansatz leben wir bei Continental.
Das bedeutet zum einen die gemeinsame Verantwortung der Sozialpartner und Betriebsparteien. Aber ich sehe auch eine Notwendigkeit, über die Unternehmensgrenzen hinwegzudenken. Dort, wo wir innerbetrieblich nicht mehr weiterkommen, suchen wir daher den Kontakt und Austausch zu anderen Unternehmen. So können wir unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch Perspektiven außerhalb des Unternehmens aufzeigen – natürlich nur, nachdem wir intern alles versucht haben.
Über Ariane Reinhart
Ariane Reinhart ist seit elf Jahren Mitglied des Vorstands von Continental, einem international tätigen Automobilzulieferer mit Sitz in Hannover. Dort ist sie zuständig für Human Relations, Sustainability und Direktorin Labor Relations. Die promovierte Juristin startete ihre Karriere bei der Volkswagen AG, wo sie 15 Jahre lang verschiedene führende Positionen bekleidete. Nach einer kürzeren Zeit im Vorstand von Bentley Motors in England wechselte sie 2014 zur Continental AG. Im Mai 2016 wurde sie in den Aufsichtsrat der Vonovia SE berufen. Ebenfalls ist sie seit Mai 2023 Mitglied im Aufsichtsrat der Evonik Industries AG.
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