Die digitale Transformation erfordert alternative Managementmethoden, die ergänzend zur bestehenden Praxis angewandt werden sollten. Beidhändig gesteuert, können Organisationen ihr Kerngeschäft mit neuen Technologien weiterentwickeln und gleichzeitig eine Kultur der schnellen Innovation etablieren.
Unternehmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz genießen einen guten Ruf und sind in ihren Märkten häufig führend. Dazu trägt auch ihre meist starke Unternehmenskultur bei, die auf die kontinuierliche, inkrementelle Weiterentwicklung des Produkt- und Leistungsportfolios fokussiert. In der digitalen Transformation allerdings scheint dieser Fokus auf gut planbare Innovation nicht mehr auszureichen. Denn die Digitalisierung bringt eine tief greifende Veränderung der Gesellschaft mit sich, wie wir sie etwa von der Entwicklung der Dampfmaschine oder der Elektromotoren kennen. Dabei stellt sich der „echte“ Nutzen und damit die breite gesellschaftliche Wirkung neuer Technologien erst Jahrzehnte nach deren Verfügbarkeit ein, erst wenn wir gelernt haben, uns mit dieser Technologie „neu“ zu organisieren.
Diesen Prozess erleben wir im Zuge der digitalen Transformation. Dank neuer Geschäftsmodelle verändern wir derzeit die Gesellschaft mit teils seit Jahrzehnten verfügbaren Technologien. Gleichzeitig entwickeln sich, dem Moore‘schen Gesetz folgend, die technologischen Möglichkeiten exponentiell weiter, was die Komplexität erhöht. Auf die Unsicherheit, die dadurch entsteht, kennt die „klassische“ Managementlehre kaum Antworten, außer der, sie tunlichst zu vermeiden.
DAS PARADIGMA DER UNSICHERHEIT
Unternehmen müssen daher heute lernen, in Unsicherheit zu investieren. Tradierte Methoden, die darauf abzielen, Risiken zu minimieren, laufen angesichts der Unsicherheit, die der digitale Wandel mit sich bringt, systemisch fehl. Dieses neue Paradigma gilt jedoch nicht für alle Bereiche: Der Großteil des Kerngeschäftes wird weiter in der bisherigen Weise geführt werden.
Für Unternehmen gilt es also, unterschiedliche Regelsätze und Führungsmethoden zu etablieren: auf der einen Seite für das Kerngeschäft, auf der anderen für die unsicheren Herausforderungen der digitalen Transformation.
Letztere benötigen alternative Formen der Organisation. Dies können zum Beispiel eingebettete Unternehmerteams sein, die strategische Optionen in entstehenden Märkten sichern, neue Technologien testen oder innovative Geschäftsmodelle validieren. Diese Teams sollten zudem einen Transformationsbeitrag zurück in die Kernorganisation leisten und deren organische Weiterentwicklung unterstützen. Denn Märkte mögen sich disruptiv verändern, Organisationen tun es nicht. Der Versuch, den „großen Sprung“ in die Digitalisierung umzusetzen, ist zum Scheitern verurteilt: Er würde die Unternehmenskultur und damit den Erfolgskern der Organisation zerstören.
VOGEL ODER FAHRRAD?
Die digitale Transformation stellt also die Herausforderung, Unternehmen beidhändig als Organisation in verschiedenen Kontexten mithilfe unterschiedlicher Regeln und Methoden zu führen, also Ambidextrie umzusetzen: für das Kerngeschäft weiter mit Fokus auf Spezialisierung und Optimierung, für die strategische Innovation der Digitalisierung mit Fokus auf Lernen, Experimentieren und Fehlertoleranz. Hierbei können Konflikte auftreten und großer Erklärungsbedarf entstehen. Es braucht daher hohe Veränderungsintelligenz in der Führung, damit die Verbindung der Kultur des „immer besser“ mit der des „immer schneller“ gelingt. Doch die Mühe lohnt sich. Eine Studie von Vance Tucker aus den 1960er-Jahren liefert eine schöne Metapher dafür, wie ein Hilfsmittel zu Höchstleistungen befähigt. Tucker untersuchte, welche Spezies in der Fortbewegung am effizientesten ist. Wenig überraschend schneidet der Mensch nicht so gut und Vögel am besten ab, Gewinner ist der Condor. Jedoch werden sie alle mit Abstand geschlagen durch den Menschen auf einem Fahrrad.
Es braucht hohe Veränderungsintelligenz in der Führung,
um die bestehende Kultur des „immer besser“
mit der des „immer schneller“ erfolgreich zu verbinden
und so Ambidextrie im Unternehmen umzusetzen.
In diesem Sinne bedeutet Digitalisierung für Industrieunternehmen, die Stärken aus ihrem Kerngeschäft mit den neuen technologischen Möglichkeiten der Digitalisierung zu hebeln und damit die bestehende, erfolgsbegründende Kultur wertschätzend weiterzuentwickeln. Eine solche Veränderung versinnbildlicht das „Fahrrad“, das große, etablierte Unternehmen erfolgreich mit den Start-ups, den „Vögeln“ der Digitalisierung, konkurrieren lässt und ihnen sogar zur Überlegenheit verhelfen kann. Industrieunternehmen werden damit genauso wenig zu Start-ups wie Menschen zu Vögeln. Aber das ist auch nicht notwendig, wenn man ein „Fahrrad“ hat.
PROF. DR.-ING. GUIDO H. BALTES
ist Direktor des IST Innovationsinstituts in Konstanz, Gastprofessor an der UIBE Universität, Beijing, und an der Rady School of Management der University of California, San Diego. Als Experte für strategische Transformation und Innovation kombiniert er Unternehmererfahrung mit international renommierter Forschung. Der Autor zahlreicher Journal- und Buchbeiträge veröffentlichte aktuell bei Springer Gabler das Standardwerk „Veränderungsintelligenz“.