Europäische Unternehmen arbeiten derzeit mit Hochdruck an der Lokalisierung ihrer Wertschöpfungsketten, wie unsere aktuelle Studie unter 150 großen Organisationen aus sechs europäischen Kernmärkten zeigt. Über alle Branchen hinweg geben 85 Prozent an, ihre Strukturen von Produktion bis Vertrieb künftig stärker in den jeweiligen Absatzmärkten bündeln zu wollen (“local for local“).
Europa gewinnt als Beschaffungs- und Produktionsmarkt in vielen Industrien wieder an Bedeutung, beispielsweise bei der Herstellung von Batteriezellen für den lokalen Absatzmarkt von E-Fahrzeugen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Unternehmen sich gegenüber außereuropäischen Märkten abschotten.
Mehrheit setzt auch auf neue Marktpotenziale außerhalb Europas
Von den Unternehmen, die in den kommenden drei Jahren neue Märkte erschließen wollen – das sind sieben von zehn – wollen 85 Prozent auch Potenziale außerhalb Europas heben. Zwar steht Europa auf der Liste der interessantesten Potenzialmärkte mit 66 Prozent ganz oben. Doch fast die Hälfte orientiert sich (weiter) Richtung Asien (47 Prozent), gefolgt von Nord- und Südamerika mit 37 beziehungsweise 33 Prozent. Den Schluss der interessantesten Potenzialmärkte bilden der Mittlere Osten (26 Prozent), Afrika (17 Prozent) und Ozeanien (11 Prozent).
An außereuropäischen Märkten führt also auch künftig kein Weg vorbei, denn für einige wichtige Schlüsselmaterialen gibt es keine lokalen Quellen. Dazu gehören Energie, seltene Erden, Akkus, Halbleiter und noch mehr, zumal Beschaffungswege und Produktionsstrukturen nicht von heute auf morgen verlagert werden können. Von einer strikten Deglobalisierung im Sinne von Europa-Zentrierung kann daher keine Rede sein. Und auch als Absatzmarkt bleibt China für globale Konzerne von großer Bedeutung.
„Die Globalisierung ist unaufhaltsam, daran ändern auch aktuelle (Handels-)Konflikte nichts. Dennoch müssen Kooperationen und wirtschaftliche Verflechtungen flexibler gestaltet sein“, sagt auch Frank Fiedler, CFO der Volkswagen Financial Services AG.
„Die Globalisierung ist unaufhaltsam,
daran ändern auch aktuelle (Handels-)Konflikte nichts. Dennoch müssen Kooperationen
und wirtschaftliche Verflechtungen
flexibler gestaltet sein.“
Blockbildung nicht trennscharf
Von einem Trend zur Blockbildung gehen die in der Horváth-Studie befragten europäischen Topmanager und -managerinnen zwar mehrheitlich aus. Jedoch werden die Blöcke nicht trennscharf aus Wirtschaftsräumen wie westlichen Ländern einerseits und BRICS-Staaten andererseits bestehen. Vielmehr wird es Allianzen von Märkten mit geopolitischer Stabilität und gemeinsamen Werten geben. Wie sich diese zusammensetzen, wird sich in den kommenden Monaten zeigen.
Trend geht zu Diversifikation
Im Fall von Asien ist laut unserer Befragung zu beobachten, dass 62 Prozent der Unternehmen daran arbeiten, ihre Aktivitäten in China zumindest teilweise zu verlagern, um resilienter zu werden und weniger abhängig zu sein. Mehrere asiatische Länder werden als mögliche neue Lieferantenmärkte betrachtet, wobei keine klare Dominanz eines Landes zu erkennen ist. Als potenzielle alternative oder neue Produktionsstandorte werden vor allem Indien und Japan gesehen, gefolgt von Singapur, Südkorea, Taiwan und Indonesien.
In unserer Beratungspraxis sehen wir in zunehmendem Maße auch Verlagerungen von China in Richtung Vietnam und Kambodscha, in der Textilindustrie in Richtung Bangladesch oder Pakistan. Dieser Trend zur Diversifikation wird sich fortsetzen, was auch sinnvoll in Bezug auf potenzielle Risiken ist.
Risikomanagement, Datentransparenz und Einkauf kommen mehr Bedeutung zu
Bei der anstehenden Neuordnung handelt es sich um eine Entflechtung von Lieferketten und eine bewusste, nicht rein kostenabhängige Wahl von (neuen) Partnern. Das Risikomanagement und die dafür notwendige Datentransparenz werden damit wichtiger. „Politische Risiken beeinflussen künftig stärker Geschäftsrisiken, Negativ-Effekte gilt es abzusichern. Beispielsweise im Kredit- und Restwertrisiko“, sagt Frank Fiedler, CFO der Volkswagen Financial Services. Auch dem Einkauf kommt noch einmal mehr Bedeutung zu. Make-or-buy-Entscheidungen müssen in diesem Zuge neu verhandelt werden.
Fachkräftemangel erschwert Nachhaltigkeitsbemühungen
Insgesamt setzen die Unternehmen auch große Hoffnungen darauf, durch eine stärkere Lokalisierung ihre Nachhaltigkeitsziele besser zu erreichen. Auch der Etablierung einer Kreislaufwirtschaft wird in diesem Zusammenhang ein großer positiver Effekt zugetraut.
Die enorme Relevanz von Nachhaltigkeit für die gesamte Wertschöpfungskette betont auch VWFS-CFO Frank Fiedler: „Nachhaltigkeit endet nicht mit dem CO2-neutralen Geschäftsbetrieb, sondern setzt sich sowohl in der Bereitstellung eines CO2-neutralen Produktes als auch in der CO2-neutralen Nutzung durch den Kunden fort.“
In der aktuellen Situation der Versorgungsknappheit gerät Sustainability kurzfristig in den Hintergrund, wie uns auch Joachim Christ, CPO von Merck im Interview bestätigt. Die in der Studie befragten Führungskräfte sagen ebenfalls mehrheitlich, dass die Lieferkettenprobleme ihre Nachhaltigkeitsbestrebungen erschweren. Doch noch ein anderes Problem sehen die Verantwortlichen am Horizont: den sich verschärfenden Fachkräftemangel, der sowohl Nachhaltigkeitsaktivitäten als auch Lieferkettenoptimierungen verschärfen wird – etwa durch Personalengpässe in der Logistik oder einem Mangel an Experten und Expertinnen mit benötigtem Spezial-Know-how. Die Krisenbewältigung geht weiter.