Merck-CPO Joachim Christ im Interview

„Just-in-time und Single-Sourcing für maximale Kostenvorteile sind Vergangenheit – aktuell zählen Nachhaltigkeit und Partnerschaften“

Fast alle großen Unternehmen arbeiten aktuell daran, widerstandsfähiger gegenüber unerwarteten Krisen zu werden. Joachim Christ, Chief Procurement Officer und Executive Vice President bei Merck, erläutert, wie das Procurement des Wissenschafts- und Technologiekonzerns als Business Partner die Versorgung des Unternehmens mit wichtigen Materialien und Dienstleistungen sichert und Risiken entlang der Lieferkette minimiert.

Herr Christ, wie würden Sie die vergangenen drei Jahre aus Sicht des Einkaufs beschreiben?

CHRIST Die Corona-Pandemie, die Suezkanal-Blockade, steigende Rohstoffpreise, der Shanghai-Lockdown, der Krieg in der Ukraine und jetzt die Energiekrise – die Herausforderungen für uns Einkäufer gehen fließend ineinander über. Die letzten drei Jahre waren stark von operativem Krisenmanagement und kurzfristiger Lösungssuche geprägt. Generell haben robuste Lieferketten noch einmal mehr an Bedeutung gewonnen.

Werden globale Lieferketten zunehmend entflochten? Inwieweit werden die Wertschöpfungsketten bei Merck aktuell lokalisiert?

CHRIST Ich glaube nach wie vor an die Zukunft globaler Märkte, globaler Produktionsnetzwerke und globaler Lieferketten, die auch miteinander funktionieren müssen. Unser Geschäftsmodell bei Merck basiert darauf; wir sind ein global aufgestelltes Unternehmen. Allerdings sind wir vermehrt dabei, das Sourcing näher an unsere Produktionsstandorte heranzurücken – dahin, wo interne Wertschöpfungen stattfinden, um kurze logistische Wege sicherzustellen. Wir verfolgen also eher einen „Region for Region“-Ansatz.

Was sind die Gründe dafür?

CHRIST Logistik ist für alle Industriezweige teurer und anfälliger geworden. Da wollen wir das Risiko durch eine regionale Optimierung reduzieren. Just-in-time und Single-Sourcing für maximale Kostenvorteile sind Vergangenheit – Versorgungssicherheit ist zur obersten Maxime geworden. Um Risiken durch Abhängigkeiten zu minimieren, setzen wir auf Diversifikation, Multi-Sourcing, Flexibilität und Resilienz in unseren Lieferketten.

Wie stellen Sie eine störungsfreie Versorgung sicher?

CHRIST Wir betreiben zum Beispiel ein deutlich aktiveres Lieferantenmanagement über normale Beziehungen hinaus. Für große, wichtige Lieferanten entwickeln wir Business-Continuity-Pläne, um mögliche Lieferschwierigkeiten besser managen zu können. Gewisse Abhängigkeiten wird es immer geben. Es geht darum, sie transparent zu machen und damit verbundene Risiken zu minimieren.

Ist Risikomanagement zu einer neuen Hauptaufgabe im Einkauf geworden? Hat sich die Rolle des Einkaufs dadurch verändert?

CHRIST Das kann man so sagen, ja. Es stehen vor allem Risiken in Bezug auf die Versorgungssicherheit im Fokus. Verlässliche Sourcing-Quellen sind heute wichtiger als Kostenvorteile durch maximale Bündelung. Dadurch hat Procurement auch einen neuen Stellenwert im Unternehmen bekommen, die „Value Contribution“ wird deutlich mehr gesehen, der Einkauf ist nochmal sichtbarer geworden und erarbeitet in enger Zusammenarbeit mit dem operativen Geschäft gemeinsame Lösungen. Heute sind wir in der Lage, verschiedene Szenarien für Kosten, Verfügbarkeiten und Schwankungen bei Angebot und Nachfrage mit dem Business abzustimmen und die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen. Auch ist die Offenheit zur Qualifizierung von alternativen Produkten und Lieferanten deutlich gestiegen, um konkrete Abhängigkeiten zu mitigieren.

Sie schauen sich also nicht nach Ersatzmärkten für China um?

CHRIST Der chinesische Anteil unserer globalen Beschaffung ist sehr moderat und deutlich unterproportional zu unseren Umsätzen. Nein, wir suchen nicht flächendeckend nach alternativen Lieferanten, aber wir vermindern Abhängigkeiten und Risiken und setzen auch weiterhin auf China als einen der zentralen Sourcing-Märkte. Grundsätzlich sind wir offen für alternative Lieferanten, wenn sie die nötigen Qualifikationen erfüllen. Die interne Bereitschaft für neue Partner ist da. Wir fokussieren uns dabei aber nicht auf bestimmte Länder. Eine generelle Verlagerung der Lieferantenmärkte nach Europa oder Deutschland wird es nicht geben.

Wie sieht es mit der dafür notwendigen Transparenz in den Lieferketten aus?

CHRIST Das war und ist in der Tat eine Herausforderung, insbesondere in dem sehr breiten Produktportfolio von Merck. Wir sind aber bei diesem Thema in den letzten Jahren weiter vorangekommen. Beispielsweise richten wir die Risikobewertungen nicht allein am Spend-Volumen der Lieferanten aus, sondern eher am Impact für den relevanten Umsatz. Es geht uns darum, frühzeitig die Effekte für unsere Commercial-Aktivitäten zu erkennen, falls irgendwo Lieferengpässe entstehen. Ein weiteres Fokusfeld unseres Risikomanagements ist das Thema Nachhaltigkeit, das immer mehr an Bedeutung gewinnt.

Ist das nicht ein Spannungsfeld – Versorgung sicherstellen und auf Nachhaltigkeit achten?

CHRIST Kurzfristig ist dieses Spannungsfeld eventuell da. Mittel- und langfristig wird Nachhaltigkeit aber noch einmal deutlich an Bedeutung gewinnen und durch die Lokalisierung auch zur Liefersicherheit beitragen. Strategisch werden beide Themen Hand in Hand gehen, auch, um Wettbewerbsvorteile zu generieren. In diesem Thema werden wir künftig, wie schon jetzt, auch bewusstere Make-or-buy-Entscheidungen treffen. Die grüne, eigene Energieproduktion ist beispielsweise ein Bereich, in dem wir selbst aktiver werden und deutlich in den Bau von z.B. Windparks investieren. Generell muss sich jeder Einkaufsbereich stärker dem Thema Nachhaltigkeit und Transparenz in der Lieferkette widmen. In der Zukunft brauchen wir CO2-basierte Produktkalkulationen auf der Lieferantenseite, die Einhaltung der Menschenrechte steht aktuell im Fokus des deutschen Lieferkettengesetzes und so weiter. Wir bei Merck arbeiten an diesen Themen mit über 50 Unternehmen aus der pharmazeutischen und chemischen Industrie in unserer gemeinsamen Brancheninitiative „TfS – Together for Sustainability“ eng zusammen, auch, um einen Industriestandard sicherzustellen. 

Welchen Ausblick möchten Sie uns geben? Rechnen Sie mit einer Entspannung der Lieferengpässe bis zum Jahresende?

CHRIST Die Situation ist derzeit weiterhin herausfordernd, und an vielen Stellen der Supply Chains ist noch keine Entspannung ersichtlich. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir mittlerweile noch resilienter aufgestellt sind. Wir arbeiten in diesem Zuge auch daran, unsere Planungssysteme zu optimieren, um Bedarfe so genau wie möglich zu ermitteln und beispielsweise bei absehbaren kritischen Entwicklungen eigene Vorräte anzuheben. Und auch die Auswirkungen von Preissteigerungen wollen wir noch besser vorhersehen können: Wo und in welchem Umfang schlagen sich Materialpreiserhöhungen auf Lieferantenseite nieder, Stichwort P&L Transparency. Unser Ziel sind genauere, rollierende Forecasts, um die herausfordernden nächsten Monate noch besser bewerkstelligen zu können. Wir haben in den letzten Jahren alle dazugelernt und vor allem haben wir gesehen, dass man Krisen gemeinsam meistern kann – in einer vertrauensvollen und guten Zusammenarbeit mit unseren internen und externen Partnern. 

Über Joachim Christ:

Joachim Christ ist seit 2017 Chief Procurement Officer und Executive Vice President bei der Merck KGaA, einem der weltweit führenden Wissenschafts- und Technologieunternehmen in den Bereichen Healthcare, Life Science und Electronics. Er hat den Einkaufsbereich von Merck mit Schwerpunkten in den Bereichen Supply Security, Financial transparency und Sustainability erfolgreich weiterentwickelt. Zuvor leitete er als Executive Vice President für fünf Jahre die Bereiche Group Controlling und Risk Management. Vor seinem Einstieg bei Merck im Jahr 2012 war Christ in leitenden Controlling- und Finanzfunktionen bei Lanxess, Aventis und Hoechst tätig.

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